Dietmar Rieger
das Lied des aquitanischen Herzogs ist die Tatsache, daß die einzel-
nen Exegesen einerseits zu ganz unterschiedlichen Resultaten gelan-
gen und andererseits - so gut belegt und einleuchtend in der Argumen-
tation sie auch sein mögen - explizit oder implizit stets mit einem
Fragezeichen enden, in dem sich die bleibende Rätselhaftigkeit dieser
«poesie mi-plaisante, mi-melancolique»3 immer wieder manifestiert.
Ausschlaggebend für die geradezu einmalige Diversität der interpre-
tatorischen Versuche ist dabei die der eigentlichen Analyse jeweils vor-
ausgehende prinzipielle Einschätzung des Gedichts, die auf der uner-
läßlichen Entscheidung der Frage basiert, ob dieser vers de dreyt nien
überhaupt eine bestimmte Aussage vermitteln will oder ob hier ein
frühes Beispiel mittelalterlicher Unsinnspoesie vorliegt, das sich von
vornherein allen Versuchen einer insgesamt kohärenten inhaltlichen
Exegese widersetzen muß. Sind - wie L. T. Topsfield glaubt («To
arouse a diversity of Interpretation was part of Guilhem’s intention»)4
- die interpretatorischen Divergenzen vom Dichter selbst beabsichtigt?
Treibt er - wie in anderen Gedichten - auch hier sein subtiles Spiel
mit dem Zuhörer oder Leser? Versucht er ihn gar in die Irre zu führen,
indem er ihn zur Aufschlüsselung eines Rätsels auffordert, ja reizt, das
gar kein Rätsel mit einer bestimmten Lösung, sondern ein «Gedicht
über das reine Nichts» ist, «das primär um seiner kunstvoll gesetzten
Form wegen da ist und das Geheimnishafte, Rätselhafte anstrebt, die
Sinneindeutigkeit meidet»?5 Wie hoch ist das zweifellos vorhandene
parodistische Element zu veranschlagen und inwieweit lassen unter
dessen Berücksichtigung offensichtliche Analogien zu augustinischen
oder mystischen Kategorien den Schluß zu, Wilhelm bringe in einem
von jeder Ironie freien Lied die ihn immer mehr tangierende Proble-
matik der höfischen Liebe zum Ausdruck? Wie sind zentrale Begriffe wie
Norman-Frances ly.29}, estuy (v.41) oder contraclau (v. 42) zu deuten?
D. Scheludko und nach ihm vor allem L. Spitzer und A. Del Monte
haben in Wilhelms vers de dreyt nien - C. Appels Bemerkung, daß
3 E. Hoepffner, Les troubadours dans leur vie et dans leurs oeuvres, Paris 1955
(Coll. A. Colin), p. 23.
4 L. T. Topsfield, Three levels of love in the poetry of the early troubadours,
Guilhem IX, Marcabru and Jaufre Rudel, in: Melanges de Philologie romane
dedies ä la memoire de ]. Boutiere, Bd. I, Liege 1971, pp. 571-587; ib., p. 575.
5 L. Pollmann, Dichtung und Liebe bei Wilhelm von Aquitanien, in: ZRPh 78
(1962), pp. 326-357; ib., p. 344. Eine konkrete Lösung annehmen, heiße «den
Geheimnischarakter dieses Gedichts zerstören, ihm seinen größten und wohl
bewußt angezielten Zauber zu nehmen, seine bindungslose, absolute Geistig-
keit» (p. 339).
das Lied des aquitanischen Herzogs ist die Tatsache, daß die einzel-
nen Exegesen einerseits zu ganz unterschiedlichen Resultaten gelan-
gen und andererseits - so gut belegt und einleuchtend in der Argumen-
tation sie auch sein mögen - explizit oder implizit stets mit einem
Fragezeichen enden, in dem sich die bleibende Rätselhaftigkeit dieser
«poesie mi-plaisante, mi-melancolique»3 immer wieder manifestiert.
Ausschlaggebend für die geradezu einmalige Diversität der interpre-
tatorischen Versuche ist dabei die der eigentlichen Analyse jeweils vor-
ausgehende prinzipielle Einschätzung des Gedichts, die auf der uner-
läßlichen Entscheidung der Frage basiert, ob dieser vers de dreyt nien
überhaupt eine bestimmte Aussage vermitteln will oder ob hier ein
frühes Beispiel mittelalterlicher Unsinnspoesie vorliegt, das sich von
vornherein allen Versuchen einer insgesamt kohärenten inhaltlichen
Exegese widersetzen muß. Sind - wie L. T. Topsfield glaubt («To
arouse a diversity of Interpretation was part of Guilhem’s intention»)4
- die interpretatorischen Divergenzen vom Dichter selbst beabsichtigt?
Treibt er - wie in anderen Gedichten - auch hier sein subtiles Spiel
mit dem Zuhörer oder Leser? Versucht er ihn gar in die Irre zu führen,
indem er ihn zur Aufschlüsselung eines Rätsels auffordert, ja reizt, das
gar kein Rätsel mit einer bestimmten Lösung, sondern ein «Gedicht
über das reine Nichts» ist, «das primär um seiner kunstvoll gesetzten
Form wegen da ist und das Geheimnishafte, Rätselhafte anstrebt, die
Sinneindeutigkeit meidet»?5 Wie hoch ist das zweifellos vorhandene
parodistische Element zu veranschlagen und inwieweit lassen unter
dessen Berücksichtigung offensichtliche Analogien zu augustinischen
oder mystischen Kategorien den Schluß zu, Wilhelm bringe in einem
von jeder Ironie freien Lied die ihn immer mehr tangierende Proble-
matik der höfischen Liebe zum Ausdruck? Wie sind zentrale Begriffe wie
Norman-Frances ly.29}, estuy (v.41) oder contraclau (v. 42) zu deuten?
D. Scheludko und nach ihm vor allem L. Spitzer und A. Del Monte
haben in Wilhelms vers de dreyt nien - C. Appels Bemerkung, daß
3 E. Hoepffner, Les troubadours dans leur vie et dans leurs oeuvres, Paris 1955
(Coll. A. Colin), p. 23.
4 L. T. Topsfield, Three levels of love in the poetry of the early troubadours,
Guilhem IX, Marcabru and Jaufre Rudel, in: Melanges de Philologie romane
dedies ä la memoire de ]. Boutiere, Bd. I, Liege 1971, pp. 571-587; ib., p. 575.
5 L. Pollmann, Dichtung und Liebe bei Wilhelm von Aquitanien, in: ZRPh 78
(1962), pp. 326-357; ib., p. 344. Eine konkrete Lösung annehmen, heiße «den
Geheimnischarakter dieses Gedichts zerstören, ihm seinen größten und wohl
bewußt angezielten Zauber zu nehmen, seine bindungslose, absolute Geistig-
keit» (p. 339).