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Pöschl, Viktor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1975, 1. Abhandlung): Das Problem der Adelphen des Terenz: vorgetragen am 30. November 1974 — Heidelberg: Winter, 1975

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https://doi.org/10.11588/diglit.45457#0014
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Viktor Pöschl

Die Gelassenheit, mit der Micio das natürliche Recht der Jugend ver-
teidigt, selbst wenn ihre Leidenschaft sie zu Rechtsverletzungen und
schweren Personen- und Sachbeschädigungen hinreißen läßt, steht in
schroffstem Gegensatz zu dem gewöhnlichen Verhalten von Vätern in
einem solchen Fall, und sie ruft die größte Heiterkeit hervor, weil sie
nicht nur dem Demea paradox erscheinen muß. Damit aber wird Micio
zu einem Vorläufer berühmter Figuren späterer Lustspiele, wo die
gleiche Abweichung vom Gewohnten im Namen des Natürlichen ein
Grundelement des heiteren Bühnenspiels bildet. Man könnte ein Buch
über die Geschichte dieses Typus schreiben, das sicher reizvoll wäre,
wie überhaupt die Morphologie des europäischen Theaters nach wie vor
ein Desiderat der wissenschaftlichen Forschung ist. Hier wäre dann vor
allem an Molieres Misanthrop zu erinnern, dessen Komik von vielen
Interpreten ebenfalls verkannt worden ist. Aus dem neueren Theater
möchte ich Hermann Bahrs „Konzert“ erwähnen. In diesem Stück be-
gibt sich der von seinen Schülerinnen umschwärmte Meister des Kla-
vierspiels mit einer verheirateten Elevin in sein Landhaus — seiner Frau
gegenüber hat er ein auswärtiges Konzert vorgetäuscht —, aber eine
eifersüchtige Mitschülerin verrät den Seitensprung dem Ehegatten der
Elevin Dr. Jura. Der jedoch — Gustav Gründgens hat die Rolle herr-
lich gespielt — reagiert darauf keineswegs so, wie man erwarten würde,
sondern verteidigt in einem köstlichen Gespräch mit der Ehefrau des
ungetreuen Pianisten die Extravaganzen seiner Frau, denen entgegenzu-
treten er nicht das mindeste Recht habe, falls sie daran Freude finde.
Die betrogene Ehefrau meint dazu kopfschüttelnd: „Sie sind ein selt-
samer Mensch“, worauf der betrogene Ehegatte antwortet: „Sagen Sie
ruhig, daß ich ein komischer Mensch bin. Das findet man immer, wenn
einer das Natürliche tut.“ Man kann das Wesen dessen, was sich in den
„Brüdern“ des Terenz und des Menander abspielt, nicht besser treffen,
und damit ist ein Schlüssel zum Micio-Problem gefunden und die falsche
Alternative, die die bisherige Diskussion so hartnäckig beherrscht hat,
korrigiert. Die Komik von Micios übertriebener Nachgiebigkeit, die die
Interpreten des Schlusses so befremdet hat, ist so schon in der Anfangs-
szene vorbereitet. Das aber bedeutet, daß Tränkle in einem Punkt voll-
kommen Recht hat, nämlich insofern, als er die Einheit des Stückes und
die Cohaerenz der Micio-Gestalt verteidigt. Nur ist sie in einem posi-
tiven, nicht in einem negativen Licht zu sehen.
Menander hat also — die Entdeckung der Figur ist mit Sicherheit ihm
zuzuschreiben —, Ansätze des Aristophanes weiterentwickelnd, den
Sonderling und, wenn man so will, den Gesellschaftskritiker als komische
 
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