Das Problem der Adelphen des Terenz
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Figur entdeckt und Terenz hat die Figur der europäischen Bühne über-
mittelt. Man kann so in Micio die Vorform eines Typs sehen, der auch
im neuesten Drama und im absurden Theater in den verschiedensten
Nuancen immer wieder auftaucht: des Typs des Einzelgängers, des Out-
siders, des Idealisten, des reinen Toren, des Narren. Auch an die weisen
Narren Shakespeares darf erinnert werden, überhaupt an alle jene Fi-
guren, die die Konventionen der Gesellschaft, ihre Hypokrisie, Korrup-
tion und Schlechtigkeit entlarven, so daß in eigentümlicher Umkehrung
die herausfallende Figur als die eigentlich Gesunde, Vernünftige im Ge-
gensatz zu der ungesunden, absurden Gesellschaft erscheint, mag man
dabei nun an Gireaudoux’ „Irre von Chaillot“ denken, die Lady Cecily
in Shaws „Captain Brassbound’s Conversion“, die Silvia in Anouilhs
„La repetition ou l’amour puni“, jenes Mädchen, das in einer verdorbe-
nen Welt die reine, natürliche Liebe verteidigt, oder an den Baldovino
in Pirandellos „II piacere dell’onestä“.
Terenz und, wie ich überzeugt bin, auch schon Menander stellen uns
Micio bereits in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Anfang
des Stückes als eine komische Figur vor Augen, die im Grunde Recht
hat. Aber wahrscheinlich hat Terenz das Paradoxe der Figur durch eine
dramaturgische Maßnahme noch gesteigert. Die meisten Interpreten
sind sich darüber einig, daß er den Anfang des Stückes gegenüber Me-
nander wesentlich geändert hat. Von Varro ist ausdrücklich bezeugt, daß
er den Anfang des Terenzstückes dem des Menander vorgezogen hat.
Die Bemerkung wäre sinnlos, bezöge sie sich nicht auf eine Änderung
von einigem Gewicht. Sie bestand, wenn jene Interpreten recht haben —
und ich bin überzeugt, daß dies der Fall ist —, darin, daß Menander noch
vor dem Anfangsmonolog des Micio und dem Gespräch zwischen Micio
und Demea in einem Prolog oder in einem Dialog zwischen Aeschinus und
Syrus die Zuschauer davon in Kenntnis setzte, daß der eigentliche Übeltäter
nicht der Zögling des Micio, sondern der des Demea war, während Terenz
das Vorauswissen des Zuschauers beseitigt hat, so daß dieser nun annehmen
muß, daß der Übeltäter wirklich Aeschinus war. Da aber das Wissen des
Zuschauers auf die Beurteilung der Bühnenvorgänge notwendig abfärbt5,
wirkt die Gelassenheit des Micio nun noch paradoxer, noch komischer.
5 Über die Bedeutung des Vorwissens in der Komödie und die seiner teilweisen oder
gänzlichen Beseitigung bei Terenz: K. Gaiser, Zur Eigenart der römischen Ko-
mödie: Plautus und Terenz gegenüber ihren griechischen Vorbildern, in H. Tem-
porini, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. I, 2, 1972, 1057, und
W. Görler, „Undramatische” Elemente in der griechisch-römischen Komödie,
Poetica 6, 1974, 259 ff.
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Figur entdeckt und Terenz hat die Figur der europäischen Bühne über-
mittelt. Man kann so in Micio die Vorform eines Typs sehen, der auch
im neuesten Drama und im absurden Theater in den verschiedensten
Nuancen immer wieder auftaucht: des Typs des Einzelgängers, des Out-
siders, des Idealisten, des reinen Toren, des Narren. Auch an die weisen
Narren Shakespeares darf erinnert werden, überhaupt an alle jene Fi-
guren, die die Konventionen der Gesellschaft, ihre Hypokrisie, Korrup-
tion und Schlechtigkeit entlarven, so daß in eigentümlicher Umkehrung
die herausfallende Figur als die eigentlich Gesunde, Vernünftige im Ge-
gensatz zu der ungesunden, absurden Gesellschaft erscheint, mag man
dabei nun an Gireaudoux’ „Irre von Chaillot“ denken, die Lady Cecily
in Shaws „Captain Brassbound’s Conversion“, die Silvia in Anouilhs
„La repetition ou l’amour puni“, jenes Mädchen, das in einer verdorbe-
nen Welt die reine, natürliche Liebe verteidigt, oder an den Baldovino
in Pirandellos „II piacere dell’onestä“.
Terenz und, wie ich überzeugt bin, auch schon Menander stellen uns
Micio bereits in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Anfang
des Stückes als eine komische Figur vor Augen, die im Grunde Recht
hat. Aber wahrscheinlich hat Terenz das Paradoxe der Figur durch eine
dramaturgische Maßnahme noch gesteigert. Die meisten Interpreten
sind sich darüber einig, daß er den Anfang des Stückes gegenüber Me-
nander wesentlich geändert hat. Von Varro ist ausdrücklich bezeugt, daß
er den Anfang des Terenzstückes dem des Menander vorgezogen hat.
Die Bemerkung wäre sinnlos, bezöge sie sich nicht auf eine Änderung
von einigem Gewicht. Sie bestand, wenn jene Interpreten recht haben —
und ich bin überzeugt, daß dies der Fall ist —, darin, daß Menander noch
vor dem Anfangsmonolog des Micio und dem Gespräch zwischen Micio
und Demea in einem Prolog oder in einem Dialog zwischen Aeschinus und
Syrus die Zuschauer davon in Kenntnis setzte, daß der eigentliche Übeltäter
nicht der Zögling des Micio, sondern der des Demea war, während Terenz
das Vorauswissen des Zuschauers beseitigt hat, so daß dieser nun annehmen
muß, daß der Übeltäter wirklich Aeschinus war. Da aber das Wissen des
Zuschauers auf die Beurteilung der Bühnenvorgänge notwendig abfärbt5,
wirkt die Gelassenheit des Micio nun noch paradoxer, noch komischer.
5 Über die Bedeutung des Vorwissens in der Komödie und die seiner teilweisen oder
gänzlichen Beseitigung bei Terenz: K. Gaiser, Zur Eigenart der römischen Ko-
mödie: Plautus und Terenz gegenüber ihren griechischen Vorbildern, in H. Tem-
porini, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. I, 2, 1972, 1057, und
W. Görler, „Undramatische” Elemente in der griechisch-römischen Komödie,
Poetica 6, 1974, 259 ff.