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Dieter Henrich
einen möglichen Kommentar einiger zentraler Abschnitte der tran-
szendentalen Deduktion bereitstellen.
Dennoch waren die bisherigen Überlegungen zum guten Teil auf
einen einzigen dieser Abschnitte gestützt, der auch mehrfach zitiert
worden ist. Es mag deshalb von Interesse sein, auf diesen Abschnitt
ausdrücklich einzugehen und, wenngleich wieder nur in einer Skizze,
zu zeigen, welche untergründige Gedankenbewegung dem Verlauf
dieses Textes zuzuordnen ist und inwiefern er über die Argumente
hinausgreift, für die er dennoch als Beleg benutzt werden kann. Der
Text sei hier wiederholt: «Denn das Gemüt konnte sich unmöglich die
Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen
und zwar apriori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung
vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empi-
risch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zu-
sammenhang nach Regeln apriori zuerst möglich macht» (A108).
Einige wesentliche Züge dieses Textes sind bereits hervorgehoben
worden: Er begründet die Ableitung von Regeln apriori auf die
Identität des Selbstbewußtseins und unterstreicht, daß eine solche
Ableitung nur dann gelingt, wenn diese Identität apriori bekannt ist.
Schließlich macht er deutlich, daß auch das gewöhnliche Selbstbewußt-
sein nur in ausdrücklicher Beziehung auf Regeln apriori Zustande-
kommen kann.
Kants Formulierungen enthalten aber Eigentümlichkeiten, die auch
mit den Mitteln dieser Untersuchung nicht ohne weiteres aufgeklärt
werden können: Sie verwenden den Begriff der Identität ein zweites
Mal und wenden ihn auf eine besondere Handlung an, die noch von
der Handlung der Synthesis selbst unterschieden wird und deren
Ergebnis jene Regeln apriori sind, nach denen alle Synthesis einen
Zusammenhang gewinnt. Von der Handlung, der eine Identität zu-
gesprochen wird, die offenkundig aus der des Selbstbewußtseins folgen
soll, wird im Singular gesprochen, während von Synthesisregeln im
Plural die Rede ist.
Statt von einer Identität der Handlung spricht Kant einige Zeilen
zuvor von der Identität einer <Funktion>. <Funktion> ist für Kant
«die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer
gemeinschaftlichen zu ordnen» (B 93). So meint Funktion also den
Einheitsaspekt einer solchen Handlung, welche spezifische Verhältnisse
zwischen unseren Vorstellungen herstellt. Dieser Funktionsbegriff läßt
sich auch auf die <Regeln apriori>, die Kategorien anwenden. Wenige
Seiten nach der zu interpretierenden Stelle spricht Kant wirklich auch
Dieter Henrich
einen möglichen Kommentar einiger zentraler Abschnitte der tran-
szendentalen Deduktion bereitstellen.
Dennoch waren die bisherigen Überlegungen zum guten Teil auf
einen einzigen dieser Abschnitte gestützt, der auch mehrfach zitiert
worden ist. Es mag deshalb von Interesse sein, auf diesen Abschnitt
ausdrücklich einzugehen und, wenngleich wieder nur in einer Skizze,
zu zeigen, welche untergründige Gedankenbewegung dem Verlauf
dieses Textes zuzuordnen ist und inwiefern er über die Argumente
hinausgreift, für die er dennoch als Beleg benutzt werden kann. Der
Text sei hier wiederholt: «Denn das Gemüt konnte sich unmöglich die
Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen
und zwar apriori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung
vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empi-
risch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zu-
sammenhang nach Regeln apriori zuerst möglich macht» (A108).
Einige wesentliche Züge dieses Textes sind bereits hervorgehoben
worden: Er begründet die Ableitung von Regeln apriori auf die
Identität des Selbstbewußtseins und unterstreicht, daß eine solche
Ableitung nur dann gelingt, wenn diese Identität apriori bekannt ist.
Schließlich macht er deutlich, daß auch das gewöhnliche Selbstbewußt-
sein nur in ausdrücklicher Beziehung auf Regeln apriori Zustande-
kommen kann.
Kants Formulierungen enthalten aber Eigentümlichkeiten, die auch
mit den Mitteln dieser Untersuchung nicht ohne weiteres aufgeklärt
werden können: Sie verwenden den Begriff der Identität ein zweites
Mal und wenden ihn auf eine besondere Handlung an, die noch von
der Handlung der Synthesis selbst unterschieden wird und deren
Ergebnis jene Regeln apriori sind, nach denen alle Synthesis einen
Zusammenhang gewinnt. Von der Handlung, der eine Identität zu-
gesprochen wird, die offenkundig aus der des Selbstbewußtseins folgen
soll, wird im Singular gesprochen, während von Synthesisregeln im
Plural die Rede ist.
Statt von einer Identität der Handlung spricht Kant einige Zeilen
zuvor von der Identität einer <Funktion>. <Funktion> ist für Kant
«die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer
gemeinschaftlichen zu ordnen» (B 93). So meint Funktion also den
Einheitsaspekt einer solchen Handlung, welche spezifische Verhältnisse
zwischen unseren Vorstellungen herstellt. Dieser Funktionsbegriff läßt
sich auch auf die <Regeln apriori>, die Kategorien anwenden. Wenige
Seiten nach der zu interpretierenden Stelle spricht Kant wirklich auch