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Werner Beierwaltes
Gesehen-Werden, ist in seinen eigenen Sehakt einbezogen, weil durch
ihn selbst begründet2. Die untrennbare Bezogenheit beider Aspekte
zeigt sich aber primär darin, daß das Gesehen-Werden Gottes durch
Andere sein eigenes Sehen als ein Von-Ihm-selbst-Gesehen-Werden
zur Voraussetzung hat. In diesem doppelten, je verschiedenen Gesehen-
Werden erweist sich das Sehen Gottes als Grund, Ursprung, seiender
Anfang (principium). So wird das Durchdenken der vielfältigen Konno-
tationen des Sehens (z. B. discernere, loqui, movere, causare, amare,
misereri, pro-videre) zum Aufschluß über das Sein und Wirken des
Prinzips selbst. Dabei vermittelt das - auch geschichtlich reiche - meta-
phorische Potential des Sehens einem primär philosophischen Interesse
das Meiste: Sehen als Denken und Einsehen (intelligere, intellectus,
intuitus) oder als Begreifen (concipere, conceptus), Sehen also als Refle-
xion oder Selbstreflexion des göttlichen Prinzips. - Die Intention von
'De visione Dei’ mag auch als spekulative Entfaltung der auf die Stoa
zurückgehenden Etymologie von fleög als flecopcöv (deus videns) ver-
standen werden3, freilich ohne den Anspruch, bereits im Wort die Sache
ganz und verläßlich zu haben. Dies wird gerade in denjenigen Konno-
tationen von Sehen deutlich, die nicht unmittelbar mit dem Ausgangs-
Wort - videre - Zusammenhängen.
Die untrennbare Relation von Sehen und Gesehen-Werden im Phä-
nomen des göttlichen oder absoluten Sehens läßt Cusanus durch eine
2 vis. 2; fol. 99v, lin. 38f. Vgl. auch Anm. 113.
3 SVF II 300,21 (die Götter lassen die <paivö|isva sehen). Die Rezeption dieser
Etymologie war folgenreich für die christliche Theologie. I. Opelt hat einige
Aspekte dieses Prozesses besonders in der griechischen Patristik verfolgt (Jb. f.
Antike und Christentum 2, 1959, 70-85; 72ff über 3eö<g). Als 'nomen agentis’
(zeitlich noch vor der bei Opelt a.a.O. 76 angeführten Eucherius-Stelle) z.B.
bei Gregor v. Nyssa, c. Eunom. II; Bd. I 397,9ff Jaeger: nfioi rrapEivai tö Oeiov
Kai nävra OsöcrOai Kai ötä 7rävx<nv t)keiv. Ps.-Dion. Areop. de div. nom. XII 2;
PG 3,969 C: Osörq«; f] rcavra Oecopevri rtQÖvota. - Diese Ableitung steht im
Zusammenhang mit dem frühgriechischen Gedanken des „allsehenden Zeus“
(Zeug ö nav6nTT|i;, Aeschylus, Eum. 1045), mit der Konnotation des alles Durch-
schauenden und damit Gerechtigkeit Garantierenden. - Für Eriugena vgl. unten
S. 28f. u. Anm. 73. Cusanus: vis. 1; 99 v 11.8; 103 r 1. de quaerendo deum, Opus-
cula I 19,9f. 26,6ff (deus quasi speculatio seu intuitio ipsa). 27,9ff. de deo ab-
scondito, Opusc. I 14,lff. non aliud 23; 54,12ff. theol. compl. P Ilb 100 r 44ff
(mensura sui ipsius et omnium . .. visio videntium). - Cusanus war diese Ety-
mologie mit Sicherheit aus Eriugenas 'De divisione naturae’ (Cod. Addit. 11035
des British Museum aus dem Besitz des Cusanus) und aus dem Kommentar des
Albertus Magnus zu Ps.-Dionysius Areopagita 'De divinis nominibus’ (Cod. Cus.
96) bekannt.
Werner Beierwaltes
Gesehen-Werden, ist in seinen eigenen Sehakt einbezogen, weil durch
ihn selbst begründet2. Die untrennbare Bezogenheit beider Aspekte
zeigt sich aber primär darin, daß das Gesehen-Werden Gottes durch
Andere sein eigenes Sehen als ein Von-Ihm-selbst-Gesehen-Werden
zur Voraussetzung hat. In diesem doppelten, je verschiedenen Gesehen-
Werden erweist sich das Sehen Gottes als Grund, Ursprung, seiender
Anfang (principium). So wird das Durchdenken der vielfältigen Konno-
tationen des Sehens (z. B. discernere, loqui, movere, causare, amare,
misereri, pro-videre) zum Aufschluß über das Sein und Wirken des
Prinzips selbst. Dabei vermittelt das - auch geschichtlich reiche - meta-
phorische Potential des Sehens einem primär philosophischen Interesse
das Meiste: Sehen als Denken und Einsehen (intelligere, intellectus,
intuitus) oder als Begreifen (concipere, conceptus), Sehen also als Refle-
xion oder Selbstreflexion des göttlichen Prinzips. - Die Intention von
'De visione Dei’ mag auch als spekulative Entfaltung der auf die Stoa
zurückgehenden Etymologie von fleög als flecopcöv (deus videns) ver-
standen werden3, freilich ohne den Anspruch, bereits im Wort die Sache
ganz und verläßlich zu haben. Dies wird gerade in denjenigen Konno-
tationen von Sehen deutlich, die nicht unmittelbar mit dem Ausgangs-
Wort - videre - Zusammenhängen.
Die untrennbare Relation von Sehen und Gesehen-Werden im Phä-
nomen des göttlichen oder absoluten Sehens läßt Cusanus durch eine
2 vis. 2; fol. 99v, lin. 38f. Vgl. auch Anm. 113.
3 SVF II 300,21 (die Götter lassen die <paivö|isva sehen). Die Rezeption dieser
Etymologie war folgenreich für die christliche Theologie. I. Opelt hat einige
Aspekte dieses Prozesses besonders in der griechischen Patristik verfolgt (Jb. f.
Antike und Christentum 2, 1959, 70-85; 72ff über 3eö<g). Als 'nomen agentis’
(zeitlich noch vor der bei Opelt a.a.O. 76 angeführten Eucherius-Stelle) z.B.
bei Gregor v. Nyssa, c. Eunom. II; Bd. I 397,9ff Jaeger: nfioi rrapEivai tö Oeiov
Kai nävra OsöcrOai Kai ötä 7rävx<nv t)keiv. Ps.-Dion. Areop. de div. nom. XII 2;
PG 3,969 C: Osörq«; f] rcavra Oecopevri rtQÖvota. - Diese Ableitung steht im
Zusammenhang mit dem frühgriechischen Gedanken des „allsehenden Zeus“
(Zeug ö nav6nTT|i;, Aeschylus, Eum. 1045), mit der Konnotation des alles Durch-
schauenden und damit Gerechtigkeit Garantierenden. - Für Eriugena vgl. unten
S. 28f. u. Anm. 73. Cusanus: vis. 1; 99 v 11.8; 103 r 1. de quaerendo deum, Opus-
cula I 19,9f. 26,6ff (deus quasi speculatio seu intuitio ipsa). 27,9ff. de deo ab-
scondito, Opusc. I 14,lff. non aliud 23; 54,12ff. theol. compl. P Ilb 100 r 44ff
(mensura sui ipsius et omnium . .. visio videntium). - Cusanus war diese Ety-
mologie mit Sicherheit aus Eriugenas 'De divisione naturae’ (Cod. Addit. 11035
des British Museum aus dem Besitz des Cusanus) und aus dem Kommentar des
Albertus Magnus zu Ps.-Dionysius Areopagita 'De divinis nominibus’ (Cod. Cus.
96) bekannt.