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Beierwaltes, Werner; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1978, 1. Abhandlung): Visio absoluta: Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus ; vorgetragen am 5. 11. 1977 — Heidelberg: Winter, 1978

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https://doi.org/10.11588/diglit.45467#0017
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Visio absoluta

7

Analogie, ein Bild im realen und metaphorischen Sinne, einsichtig wer-
den. Den Adressaten der Schrift, den Mönchen des Klosters Tegern-
see, schickt er eine 'icona Dei’, die durch die Eindringlichkeit und Unbe-
zweifelbarkeit einer sinnvollen Erfahrung - 'experimentaliter’ - hin-
führen soll zu dem analogen intelligiblen Sein und Vorgang. Dieses
„Bild Gottes“ - an einem Ort befestigt - blickt jeden Betrachter, der
aus je verschiedenem „Blickwinkel“ (angulus oculi) auf es gerichtet ist,
zugleich an. Sein Blick bleibt auch dem Betrachter zugewandt, wenn
dieser seinen Standort ändert; auch diejenigen „verläßt“ er nicht, die
in entgegengesetzter Richtung den Ausgangspunkt ihres Blickes zugleich
wechseln: beide vielmehr „folgen“ einander, bleiben, je verschieden
zwar, aber dennoch ganz im Blick des einen Zieles4.
Die metaphorische Funktion dieses realen Bildes - es ist selbst als
Bild zu verstehen: eine 'metaphora rei’ - zeigt sich schon im Vorfeld
der Begründung des Gedankens als vielschichtig. Zunächst verweist es
auf den Grundakt Gottes, das Sehen selbst. Dieses ist als absolutes
Sehen (visio absoluta) von dem endlichen, begrenzten oder einge-
schränkten Sehen (visus contractus) zwar unterschieden, ist und bleibt
jedoch in ihm; das absolute Sehen begrenzt sich sozusagen selbst in
das Sehen der einzelnen Betrachter, die durch eben diese contractio
allererst zu sehen imstande sind5. Diese Selbst-Begrenzung des absoluten
Sehens als Blick auf Einzelnes hin ist aber zugleich eine Aufhebung des
Begrenzten in das Absolute selbst: Alles nämlich ist im Absoluten auf
entgrenzte Weise (incontracte) als Grund des Begrenzten oder: omnis
contractio est in absoluto, quia absoluta visio est contractio contractio-
num6 - das Absolute als Negation der Grenze.
Das Bild verweist auch darauf, daß das absolute Sehen gegenüber
dem begrenzten „umfassend“ oder un-endlich ist, indem es das Ein-
zelne und Alles zugleich sieht: es „sorgt“ für das Einzelne oder Indivi-
duelle ebensosehr wie für das Ganze, in seinem Sehen, welches das
Kleinste und Größte zusammennimmt und in ihm wirkend ist, erscheint
sein coincidentales Sein7. Demgegenüber ist das endliche oder begrenzte
4 vis. praef. 99rl3f. 4; 100 r 12. 44. Zur geschichtlichen Identifikation eines Bildes
der beschriebenen Art vgl. H. Kauffmann, Ein Selbstporträt Rogers van der Wey-
den auf den Berner Trajansteppichen, in: Repertorium d. Kunstgeschichte 39,
1916, 15-30.
5 vis. 1; 99 v 15f. 2; 99 v 33ff. 12; 105 r 3f.
e Ebd. 2;99v36f.
7 1; 99 v 12: simul omnia et singula inspiciens. 2; 99 v 31: simul et semel. 9; 103 v 36.
praef. 99 v 3.
 
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