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Werner Beierwaltes
danke, daß das absolute Sein das endliche Sein als dessen wirkend
anwesender Grund nicht verläßt, ist dem komplementär, daß kein Sei-
endes sich ebensowenig dem absoluten Sehen entziehen kann, wie es
sich selbst, d.h. seine eigene Identität aufgeben könnte81. Das absolute
Sehen ist also nicht nur der sich veräußernde Existenz-Grund des Seien-
den, sondern auch, weil es das Einzelne und das Ganze zugleich sieht,
der Grund von dessen Erhaltung unter den Bedingungen von End-
lichkeit und Zeitlichkeit.
Durch den seinskonstitutiven Blick des Absoluten wird dessen an
sich unsichtbares Sein sichtbar: Welt ist daher Erscheinung des Abso-
luten, „Theophanie“ in der Weise der Einschränkung (contractio) oder
des Bildes82. Wenn das Bild auch immer durch Differenz bestimmt
bleibt und nur von seinem Urbild her verstehbar ist, so ist es ihm den-
noch in höchstem Maße ähnlich. Diesen Sachverhalt expliziert Cusa-
nus u.a. durch das in der Tradition der Timaios-Exegese vielfach modi-
fizierte Techne-Modell: Gott selbst ist als Wissen oder Weisheit die
paradigmatische „Kunst“, die die Idee der einen, in sich differenzierten
Gestalt von Welt ihm selbst innerlich und äußerlich verwirklicht83; was
er in sich selbst an Ideen „spiegelt“84 85, veräußert er in Welt, so daß
diese in ihm als ihrem Spiegel sich selbst, und dies heißt den Spiegeln-
den oder Sehenden selbst sieht. Welt kann deshalb adäquat als „Selbst-
bildnis“ (sui ipsius imago) des Gottes verstanden werden83.
Diese universal wirkende Immanenz des Prinzips ist auch als eine
scheinbare Gleichheit des Grundes mit dem Gegründeten formulier-
81 4; 100 r 28ff. 9; 103 r 34-36: sicut igitur nihil omnium quae sunt potest fugere
esse suum proprium, ita nec essentiam tuam quae dat esse essentiae omnibus,
quare nec visum tuum.
82 possest 72,6f: quid ... est mundus nisi invisibilis dei apparitio? Dieser Termi-
nus übersetzt 'theophania’ und ist Cusanus aus Dionysius und dessen Inter-
preten Eriugena bekannt: W. Beierwaltes, Negati affirmatio: Welt als Metapher.
Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriu-
gena, in: Phil. Jahrbuch 83, 1976, 237-265. 'Sui ipsius ostensio’ (possest 31,8)
ist die Voraussetzung für ein menschliches Sehen Gottes, das nach Römer 1,20
in der Welt „der Erscheinung“ ansetzen soll.
83 'ars (infinita’) z. B. vis. 7; 102 r 17; 109 v 16ff. de mente II; p. 51,24. ars creativa:
possest 36,3. de genesi, Opusc. I 173,5ff. Zur Tradition dieses Gedankens: Aug.
de vera rel. 31. 57. in Joh. III 4. Honorius August, de cogn. vitae 25; PL 40,1015.
elegans architectus: Alanus de Insulis, de planctu naturae, PL 210,453 B (ebd.
auch der Begriff der 'praeconceptiones’). Zu Eriugena vgl. Anm. 102.
84 Das In-sich-Sehen als „Spiegeln“ (speculari): vis. 8; 102 v 34ff.
85 quasi pictor: vis. 25; 113 v 20ff. Diese Metapher ist dem „vom Finger Gottes“
geschriebenen „Buch“ der Welt äquivalent: de genesi, Opusc. I 172,lOff.
Werner Beierwaltes
danke, daß das absolute Sein das endliche Sein als dessen wirkend
anwesender Grund nicht verläßt, ist dem komplementär, daß kein Sei-
endes sich ebensowenig dem absoluten Sehen entziehen kann, wie es
sich selbst, d.h. seine eigene Identität aufgeben könnte81. Das absolute
Sehen ist also nicht nur der sich veräußernde Existenz-Grund des Seien-
den, sondern auch, weil es das Einzelne und das Ganze zugleich sieht,
der Grund von dessen Erhaltung unter den Bedingungen von End-
lichkeit und Zeitlichkeit.
Durch den seinskonstitutiven Blick des Absoluten wird dessen an
sich unsichtbares Sein sichtbar: Welt ist daher Erscheinung des Abso-
luten, „Theophanie“ in der Weise der Einschränkung (contractio) oder
des Bildes82. Wenn das Bild auch immer durch Differenz bestimmt
bleibt und nur von seinem Urbild her verstehbar ist, so ist es ihm den-
noch in höchstem Maße ähnlich. Diesen Sachverhalt expliziert Cusa-
nus u.a. durch das in der Tradition der Timaios-Exegese vielfach modi-
fizierte Techne-Modell: Gott selbst ist als Wissen oder Weisheit die
paradigmatische „Kunst“, die die Idee der einen, in sich differenzierten
Gestalt von Welt ihm selbst innerlich und äußerlich verwirklicht83; was
er in sich selbst an Ideen „spiegelt“84 85, veräußert er in Welt, so daß
diese in ihm als ihrem Spiegel sich selbst, und dies heißt den Spiegeln-
den oder Sehenden selbst sieht. Welt kann deshalb adäquat als „Selbst-
bildnis“ (sui ipsius imago) des Gottes verstanden werden83.
Diese universal wirkende Immanenz des Prinzips ist auch als eine
scheinbare Gleichheit des Grundes mit dem Gegründeten formulier-
81 4; 100 r 28ff. 9; 103 r 34-36: sicut igitur nihil omnium quae sunt potest fugere
esse suum proprium, ita nec essentiam tuam quae dat esse essentiae omnibus,
quare nec visum tuum.
82 possest 72,6f: quid ... est mundus nisi invisibilis dei apparitio? Dieser Termi-
nus übersetzt 'theophania’ und ist Cusanus aus Dionysius und dessen Inter-
preten Eriugena bekannt: W. Beierwaltes, Negati affirmatio: Welt als Metapher.
Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriu-
gena, in: Phil. Jahrbuch 83, 1976, 237-265. 'Sui ipsius ostensio’ (possest 31,8)
ist die Voraussetzung für ein menschliches Sehen Gottes, das nach Römer 1,20
in der Welt „der Erscheinung“ ansetzen soll.
83 'ars (infinita’) z. B. vis. 7; 102 r 17; 109 v 16ff. de mente II; p. 51,24. ars creativa:
possest 36,3. de genesi, Opusc. I 173,5ff. Zur Tradition dieses Gedankens: Aug.
de vera rel. 31. 57. in Joh. III 4. Honorius August, de cogn. vitae 25; PL 40,1015.
elegans architectus: Alanus de Insulis, de planctu naturae, PL 210,453 B (ebd.
auch der Begriff der 'praeconceptiones’). Zu Eriugena vgl. Anm. 102.
84 Das In-sich-Sehen als „Spiegeln“ (speculari): vis. 8; 102 v 34ff.
85 quasi pictor: vis. 25; 113 v 20ff. Diese Metapher ist dem „vom Finger Gottes“
geschriebenen „Buch“ der Welt äquivalent: de genesi, Opusc. I 172,lOff.