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Werner Beierwaltes
sie wird aber zugleich durch die intensive Beziehung des Einzelnen zum
Anderen und zum Ganzen in eine Einheit durch oder als Denken
synthetisiert, von der Plotin sagt, sie sei zeitfreie und damit abstandlose,
durch das Denken „lebende“ Identität, Identität also trotz oder in
der Differenz. Der in seinem Sein, den Ideen, sich selbst denkende Geist
ist daher nach der relationslosen, reinen Einheit des Einen selbst die
intensivste Form von Einheit, die sich durch Differenz hindurch im
Modus der Selbstreflexion konstituiert95.
Wenn auch im Sinne Plotins Vielheit im Grunde nicht sein soll, ihr
Sein aber, wenn oder weil es ist, in die jeweils höchste Einheit zu redu-
zieren ist, ist die reflexive Erfassung des Seins erster Andersheit oder
Vielheit, der zeitfreie Geist also, dennoch die philosophische Voraus-
setzung für den christlichen Schöpfungsbegriff. Jedenfalls sind z. B.
Augustins vielschichtige Erörterungen zu diesem Problem trotz unter-
schiedlicher, durch die Theologie bestimmter Bewußtseinshaltung zum
Sein von Welt nicht denkbar ohne die von Plotin differenziert durch-
dachte und von Porphyrios fortbestimmte Konzeption der mittelplato-
nischen „Schule“: Gott und nicht primär ein zeithaftes Denken (v'JXfl,
ötdvota) sei der „Ort der Ideen“.
Von dieser neuplatonischen Transformation des aristotelischen Be-
griffs der Selbstreflexion her steht sowohl durch geschichtliche Vermitt-
lung als auch in der sachlichen Ausprägung des Gedankens Johannes
Scotus Eriugena dem cusanischen Denken am nächsten. Dieser be-
greift, mehr noch als Augustinus, Gottes Schaffen vom Sehen her. In
der Explikation dieses Gedankens durch Eriugena sind auch die Ele-
mente der cusanischen Konzeption einer „visio absoluta“ gegeben: Gott
schafft in sich selbst Alles, indem er es in sich selbst sieht96 97. Die Zeu-
gung des Wortes oder der Weisheit ist identisch mit der Zeugung der
„ursprunghaften Ursachen“ (causae primordiales); der Sohn als das
Wort oder die Weisheit des Vaters muß folglich selbst als der Ort der
Ideen gedacht werden9?. Dieser worthafte und ideehafte Hervorgang
aber ist zugleich „Sehen“, „Sehen“ also das ewige Gründen und Sein
95 Diese Problemskizze ist entfaltet in der Einleitung zu meinem Kommentar zu
Plotin III 7, Über Ewigkeit und Zeit, Frankfurt 1967, 21ff, 28ff und in: Anders-
heit, Arch. f. Begriffsgesch. 16, 1972, 167ff.
96 de div. nat. I 60,20f (I. P. Sheldon-Williams): ipse enim (videns) omnia quae
sunt in se ipso videt ... 32: videndo ita et currendo (Gtedc von Oeco) fiunt omnia.
97 de div. nat. II 204,lOff. prol. in Joh. Ev. VIII; 238,15ff (E. Jeauneau): nihil extra
ipsum est factum, quia ipse ambit intra se omnia, comprehendens omnia.
Werner Beierwaltes
sie wird aber zugleich durch die intensive Beziehung des Einzelnen zum
Anderen und zum Ganzen in eine Einheit durch oder als Denken
synthetisiert, von der Plotin sagt, sie sei zeitfreie und damit abstandlose,
durch das Denken „lebende“ Identität, Identität also trotz oder in
der Differenz. Der in seinem Sein, den Ideen, sich selbst denkende Geist
ist daher nach der relationslosen, reinen Einheit des Einen selbst die
intensivste Form von Einheit, die sich durch Differenz hindurch im
Modus der Selbstreflexion konstituiert95.
Wenn auch im Sinne Plotins Vielheit im Grunde nicht sein soll, ihr
Sein aber, wenn oder weil es ist, in die jeweils höchste Einheit zu redu-
zieren ist, ist die reflexive Erfassung des Seins erster Andersheit oder
Vielheit, der zeitfreie Geist also, dennoch die philosophische Voraus-
setzung für den christlichen Schöpfungsbegriff. Jedenfalls sind z. B.
Augustins vielschichtige Erörterungen zu diesem Problem trotz unter-
schiedlicher, durch die Theologie bestimmter Bewußtseinshaltung zum
Sein von Welt nicht denkbar ohne die von Plotin differenziert durch-
dachte und von Porphyrios fortbestimmte Konzeption der mittelplato-
nischen „Schule“: Gott und nicht primär ein zeithaftes Denken (v'JXfl,
ötdvota) sei der „Ort der Ideen“.
Von dieser neuplatonischen Transformation des aristotelischen Be-
griffs der Selbstreflexion her steht sowohl durch geschichtliche Vermitt-
lung als auch in der sachlichen Ausprägung des Gedankens Johannes
Scotus Eriugena dem cusanischen Denken am nächsten. Dieser be-
greift, mehr noch als Augustinus, Gottes Schaffen vom Sehen her. In
der Explikation dieses Gedankens durch Eriugena sind auch die Ele-
mente der cusanischen Konzeption einer „visio absoluta“ gegeben: Gott
schafft in sich selbst Alles, indem er es in sich selbst sieht96 97. Die Zeu-
gung des Wortes oder der Weisheit ist identisch mit der Zeugung der
„ursprunghaften Ursachen“ (causae primordiales); der Sohn als das
Wort oder die Weisheit des Vaters muß folglich selbst als der Ort der
Ideen gedacht werden9?. Dieser worthafte und ideehafte Hervorgang
aber ist zugleich „Sehen“, „Sehen“ also das ewige Gründen und Sein
95 Diese Problemskizze ist entfaltet in der Einleitung zu meinem Kommentar zu
Plotin III 7, Über Ewigkeit und Zeit, Frankfurt 1967, 21ff, 28ff und in: Anders-
heit, Arch. f. Begriffsgesch. 16, 1972, 167ff.
96 de div. nat. I 60,20f (I. P. Sheldon-Williams): ipse enim (videns) omnia quae
sunt in se ipso videt ... 32: videndo ita et currendo (Gtedc von Oeco) fiunt omnia.
97 de div. nat. II 204,lOff. prol. in Joh. Ev. VIII; 238,15ff (E. Jeauneau): nihil extra
ipsum est factum, quia ipse ambit intra se omnia, comprehendens omnia.