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Beierwaltes, Werner; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1978, 1. Abhandlung): Visio absoluta: Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus ; vorgetragen am 5. 11. 1977 — Heidelberg: Winter, 1978

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https://doi.org/10.11588/diglit.45467#0039
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Visio absoluta

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der Dinge in Gott98. Wenn aber jede Idee, die ein Vorbegriff (KQOÖQtofia
oder 7tQ®T6w7tov)99 von welthaft Seiendem ist, sich im „Sehen“ der
Weisheit oder des Wortes konstituiert, so „schafft Gott4 gerade im Her-
vorgang in die Ideen oder in sein Wort „sich selbst“ (deus igitur seip-
sum fecit) 10°. Dies ist jedoch nicht, wie für Cusanus bereits angedeutet,
im Sinne eines in der Geschichte überhaupt oder durch seine eigene
Geschichte erst werdenden Gottes zu verstehen, sondern vielmehr als
zeitfreie Selbstexplikation des göttlichen Wesens. Wenn der Vater das
Sein ist, welches schafft, aber nicht geschaffen wird, dann ist der Sohn
dasjenige, welches 'geschaffen wird’ und schafft, natura quae et creatur
et creat101: das innere Schaffen als Voraussetzung des Welt-Schaffens,
die 'ars Patris’102. Sowohl das innere Sehen qua Schaffen als auch die
Bestimmung von Sehen und Sprechen als Wissen oder Begreifen
hat seine Analogie bei Cusanus; der Sohn, das Wort oder die Weis-
heit wird nämlich von Eriugena als das Selbstbewußtsein des Vaters
gedacht - das Gezeugte weiß sich selbst und seine Herkunft - oder als
dessen Begriff, in dem Gott sich selbst als „ganzer“, d.h. trinitarischer
begreift103.
Cusanus hat diesen Grundgedanken des Eriugena konsequent ent-
faltet; zugleich hat er dessen neuplatonischen und christlichen Aspekt
intensiviert, indem er eine überzeugende, die Metaphysik fortbestim-
mende Synthese des Begriffes Einheit und Trinität aus den genannten
philosophischen Elementen heraus vollzog und sie universal auf seiende
Selbstreflexion hin dachte: „Sehen“ als Selbstbegriff wird zu dem
alle seine Bestimmungen durchdringenden Grundzug absoluten Seins.
Dieses ist 'visio absoluta’ in sich und als creativer Grund zugleich.
2. Sachlicher und geschichtlicher Ansatzpunkt meiner Überlegungen
zum cusanischen Begriff einer 'visio absoluta’ war der für philosophi-
98 de div. nat. IV 9; PL 122,778 D: . . . sapientia creatrix, quod est Verbum Dei,
omnia, quae in ea facta sunt, priusquam fierent, vidit, ipsaque visio eorum,
quae priusquam fierent, visa sunt, vera et incommutabilis aeternaque essentia
est. III 17; 673 Cf.
99 Ebd. II 204, lOff.
199 III 17; 674 A. I 64,37.
191 I 36,24.
192 II 120,30ff: pater opifex - ars sua, sapientia, deren Schaffen des „Vielen“ simul
et semel sich vollzieht. Vgl. zu Cusanus Anm. 83.
193 Zur Begründung: W. Beierwaltes, Das Problem des absoluten Selbstbewußt-
seins bei Johannes Scotus Eriugena, in: Platonismus in der Philosophie des
Mittelalters, Wege der Forschung 197, Darmstadt 1969, 484-516, bes. 498ff. Zum
Verhältnis des Cusanus zu Eriugena, welches beider Denken in zentralen Punk-
ten betrifft, bereite ich eine eigene Untersuchung vor.
 
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