Visio absoluta
33
weiterreichenden Versuches geschichtsphilosophischer Überlegungen
ein wesentlicher Ansatzpunkt für die Einsicht, daß die Neuzeit nicht
primär oder nicht ausschließlich als Antwort auf nominalistische Philo-
sopheme zu verstehen ist, sondern daß für sie zentrale Gedanken der
neuplatonischen Tradition im Anhalt an die metaphysischen (und
nicht nur logischen) Elemente aristotelischen Denkens konstitutiv ge-
worden sind.
so aus: das göttliche Sehen setze „unser Subjektsein als eigenes Vollzugszentrum
in sein Sehen ein und macht es zur bedingten Bedingung des eigenen göttlichen
Gesehenwerdens“ [Nicolaus von Cues und Hegel, Kantstudien 48, 1956, 230]).
Dadurch wird jedoch die absolute Transzendenz Gottes oder sein „Für-sich-
Sein“ als ein Wesensmoment nicht berührt. Das Insistieren auf dem Verhältnis
von Immanenz und Transzendenz bedeutet gerade im Zusammenhang mit Cusa-
nus und neuplatonischem Denken kein Hängen an einer den Sachverhalt eher
verdeckenden Schematik, es weist vielmehr mit allem Nachdruck darauf hin,
daß der Begriff des göttlichen Prinzips nur in einem dialektischen Verhältnis
zur Welt gefaßt werden kann, ohne daß es selbst als Ursprung und Maß eben
dieses Verhältnisses in diesem aufgehoben wäre oder aufginge. - Was immer
die Behauptung meint, Cusanus habe „Gott entsubstantialisiert“ (21, 24): die
typisch cusanische Entfaltung des Verhältnisses von Transzendenz und Imma-
nenz fordert geradezu eine Deutung, die sein Denken insbesondere in diesem
Bereich von neuplatonischen Philosophemen her aufschließt, die sich z. B. in
Eriugena oder Meister Eckhart modifiziert fortbestimmt haben. Gerade die neu-
platonische Konzeption, die das In-Sein des Prinzips im Seienden dessen abso-
luter Enthobenheit paradox komplementär denkt, widerspricht der Behauptung:
„Cusanus ist nicht mehr von der ihm vor ausgehenden Tradition aus zu deuten,
insofern er Gott nicht als für sich Seiendes ansetzt, sondern ihn entsubstantiali-
siert und in wesenhaft unauflösbaren Bezug zu Welt und Mensch setzt“ (Schulz
24). Auch das Eine im Sinne Plotins steht in keinem „auflösbaren Bezug“ zur
Welt, weil Welt aus ihm und durch es ist; ebenso wenig ist es als ein nur „für
sich Seiendes angesetzt“, das auch „für sich“ bliebe. Freilich ist Welt für Plotin
nicht „Resultat“ uneingeschränkter, d.h. intendierter, gewollter Creativität,
wie sie Cusanus als zeitfreie Voraussetzung der zeitlichen 'explicatio’ Gottes
versteht. Gegenüber einer neuzeitlichen Einebnung absoluter Transzendenz ist
jedoch festzuhalten, daß die cusanische Dialektik von „In“ und „Über“ im neu-
platonischen Denken ihren sachlichen und geschichtlichen Ausgangspunkt und
Anhalt hat, das beide Extreme in ihren Konsequenzen analysiert. Gerade von
dieser Tradition her also wird es eher begreifbar, daß Cusanus die „Nähe“ des
Prinzips zum Prinzipiierten trotz oder in der Differenz intensiv durchdenkt.
33
weiterreichenden Versuches geschichtsphilosophischer Überlegungen
ein wesentlicher Ansatzpunkt für die Einsicht, daß die Neuzeit nicht
primär oder nicht ausschließlich als Antwort auf nominalistische Philo-
sopheme zu verstehen ist, sondern daß für sie zentrale Gedanken der
neuplatonischen Tradition im Anhalt an die metaphysischen (und
nicht nur logischen) Elemente aristotelischen Denkens konstitutiv ge-
worden sind.
so aus: das göttliche Sehen setze „unser Subjektsein als eigenes Vollzugszentrum
in sein Sehen ein und macht es zur bedingten Bedingung des eigenen göttlichen
Gesehenwerdens“ [Nicolaus von Cues und Hegel, Kantstudien 48, 1956, 230]).
Dadurch wird jedoch die absolute Transzendenz Gottes oder sein „Für-sich-
Sein“ als ein Wesensmoment nicht berührt. Das Insistieren auf dem Verhältnis
von Immanenz und Transzendenz bedeutet gerade im Zusammenhang mit Cusa-
nus und neuplatonischem Denken kein Hängen an einer den Sachverhalt eher
verdeckenden Schematik, es weist vielmehr mit allem Nachdruck darauf hin,
daß der Begriff des göttlichen Prinzips nur in einem dialektischen Verhältnis
zur Welt gefaßt werden kann, ohne daß es selbst als Ursprung und Maß eben
dieses Verhältnisses in diesem aufgehoben wäre oder aufginge. - Was immer
die Behauptung meint, Cusanus habe „Gott entsubstantialisiert“ (21, 24): die
typisch cusanische Entfaltung des Verhältnisses von Transzendenz und Imma-
nenz fordert geradezu eine Deutung, die sein Denken insbesondere in diesem
Bereich von neuplatonischen Philosophemen her aufschließt, die sich z. B. in
Eriugena oder Meister Eckhart modifiziert fortbestimmt haben. Gerade die neu-
platonische Konzeption, die das In-Sein des Prinzips im Seienden dessen abso-
luter Enthobenheit paradox komplementär denkt, widerspricht der Behauptung:
„Cusanus ist nicht mehr von der ihm vor ausgehenden Tradition aus zu deuten,
insofern er Gott nicht als für sich Seiendes ansetzt, sondern ihn entsubstantiali-
siert und in wesenhaft unauflösbaren Bezug zu Welt und Mensch setzt“ (Schulz
24). Auch das Eine im Sinne Plotins steht in keinem „auflösbaren Bezug“ zur
Welt, weil Welt aus ihm und durch es ist; ebenso wenig ist es als ein nur „für
sich Seiendes angesetzt“, das auch „für sich“ bliebe. Freilich ist Welt für Plotin
nicht „Resultat“ uneingeschränkter, d.h. intendierter, gewollter Creativität,
wie sie Cusanus als zeitfreie Voraussetzung der zeitlichen 'explicatio’ Gottes
versteht. Gegenüber einer neuzeitlichen Einebnung absoluter Transzendenz ist
jedoch festzuhalten, daß die cusanische Dialektik von „In“ und „Über“ im neu-
platonischen Denken ihren sachlichen und geschichtlichen Ausgangspunkt und
Anhalt hat, das beide Extreme in ihren Konsequenzen analysiert. Gerade von
dieser Tradition her also wird es eher begreifbar, daß Cusanus die „Nähe“ des
Prinzips zum Prinzipiierten trotz oder in der Differenz intensiv durchdenkt.