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Wolfgang Kullmann
Aristoteles unterscheidet nun in A 3 eine ganze Fülle von solchen
Bewegungskomponenten, die mit dem Samen übertragen werden. Durch
verschiedene Impulse werden vom Vater der Gattungstypus, der Art-
typus, der Individualtypus, das Geschlecht und die Form der Körper-
teile in ihrer jeweiligen individuellen Ausprägung übertragen. Insoweit
sind die Impulse aktiv im Samen des Erzeugers vorhanden. Es kann
aber sein, daß sie degenerieren (s^icnacyOai stg rö avriKsipsvov), dann
kommen die in den weiblichen Katamenien latent vorhandenen Impulse
zur Geltung, womit der Vererbung von der Mutter her Rechnung getra-
gen ist. Es kann auch sein, daß die Impulse sich abschwächen (Xuecröat);
dann kommen die sich anschließenden Impulse in der männlichen oder
weiblichen Aszendenz zum Zuge, die ebenfalls latent vorhanden sind
(also Vater, Großvater usw., bzw. Mutter, Großmutter usw.).
Die Einwirkung der Impulse auf den Katamenienstoff wird von Ari-
stoteles als ein physiologisch-chemischer Vorgang beschrieben, bei dem
die Wärme des Spermas, des Trägers der Impulse, eine enzymatische
Wirkung entfaltet. Aristoteles vergleicht sie nämlich mit der Wirkung
des in die Milch geschütteten Labs (Kusrict) beziehungsweise des anstelle
von Lab gebrauchten Feigensaftes (önög)98 99. Entsprechend wird der Effekt
des Größerwerdens der Eier von Tieren, die Larven erzeugen, mit der
Wirkung von Hefe verglichen (755 a 18)". Freilich unterscheidet sich
die Wirkung des Spermas von der Wirkung des Labs dadurch, daß das
Sperma nicht nur einen enzymatischen Wachstumseffekt hervorruft, son-
dern durch die Übermittlung der Impulse auch die allmähliche körper-
liche Differenzierung determiniert. Dies scheint auch Aristoteles bewußt
gewesen zu sein, wie man eine etwas dunkle Stellungnahme so interpre-
tieren darf, die die Frage betrifft, warum aus dem Samen auch Mehr-
fachgeburten hervorgehen können. Ein Enzym wie Lab oder Hefe regt
nur das Wachstum an, nicht aber eine Vervielfältigung des Gebildes,
auf das es einwirkt. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn es in großer
Dosierung wirkt. Mehr Hefe macht aus einem Berliner Pfannkuchen
nicht zwei. Die Stelle bei Aristoteles besagt, daß das Sperma im Unter-
schied zum Lab oder Feigensaft nicht nur eine quantitative, sondern
auch eine qualitative Wirkung hervorruft und daß das Beispiel der
98 Vgl. die Stellen bei Erna Lesky 137.
99 Vgl. auch Needham 50.
Wolfgang Kullmann
Aristoteles unterscheidet nun in A 3 eine ganze Fülle von solchen
Bewegungskomponenten, die mit dem Samen übertragen werden. Durch
verschiedene Impulse werden vom Vater der Gattungstypus, der Art-
typus, der Individualtypus, das Geschlecht und die Form der Körper-
teile in ihrer jeweiligen individuellen Ausprägung übertragen. Insoweit
sind die Impulse aktiv im Samen des Erzeugers vorhanden. Es kann
aber sein, daß sie degenerieren (s^icnacyOai stg rö avriKsipsvov), dann
kommen die in den weiblichen Katamenien latent vorhandenen Impulse
zur Geltung, womit der Vererbung von der Mutter her Rechnung getra-
gen ist. Es kann auch sein, daß die Impulse sich abschwächen (Xuecröat);
dann kommen die sich anschließenden Impulse in der männlichen oder
weiblichen Aszendenz zum Zuge, die ebenfalls latent vorhanden sind
(also Vater, Großvater usw., bzw. Mutter, Großmutter usw.).
Die Einwirkung der Impulse auf den Katamenienstoff wird von Ari-
stoteles als ein physiologisch-chemischer Vorgang beschrieben, bei dem
die Wärme des Spermas, des Trägers der Impulse, eine enzymatische
Wirkung entfaltet. Aristoteles vergleicht sie nämlich mit der Wirkung
des in die Milch geschütteten Labs (Kusrict) beziehungsweise des anstelle
von Lab gebrauchten Feigensaftes (önög)98 99. Entsprechend wird der Effekt
des Größerwerdens der Eier von Tieren, die Larven erzeugen, mit der
Wirkung von Hefe verglichen (755 a 18)". Freilich unterscheidet sich
die Wirkung des Spermas von der Wirkung des Labs dadurch, daß das
Sperma nicht nur einen enzymatischen Wachstumseffekt hervorruft, son-
dern durch die Übermittlung der Impulse auch die allmähliche körper-
liche Differenzierung determiniert. Dies scheint auch Aristoteles bewußt
gewesen zu sein, wie man eine etwas dunkle Stellungnahme so interpre-
tieren darf, die die Frage betrifft, warum aus dem Samen auch Mehr-
fachgeburten hervorgehen können. Ein Enzym wie Lab oder Hefe regt
nur das Wachstum an, nicht aber eine Vervielfältigung des Gebildes,
auf das es einwirkt. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn es in großer
Dosierung wirkt. Mehr Hefe macht aus einem Berliner Pfannkuchen
nicht zwei. Die Stelle bei Aristoteles besagt, daß das Sperma im Unter-
schied zum Lab oder Feigensaft nicht nur eine quantitative, sondern
auch eine qualitative Wirkung hervorruft und daß das Beispiel der
98 Vgl. die Stellen bei Erna Lesky 137.
99 Vgl. auch Needham 50.