Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus
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Das Wirken der Welt-Seele als Vermittlung zur Einheit und zum
Grunde hin und damit auch das Wirken von amor in Welt und
Mensch ist bedingt durch den ontologischen Mitte-Charakter des
Seelischen überhaupt. Dies ist ein originär neuplatonischer Grund-
gedanke: Seele ist seiende und zugleich wirkende Mitte. Sie ist selbst
durch eine intensivere Form der Einheit, den Nus101, begründet und
kann nur als solche die seinskonstitutive Einheit in die Existenz
der sinnenfälligen Welt hinein vermitteln. In ihr also, als einem
eigenen hypostatischen Bereich, durchdringen sich Geistiges und
Sinnenfälliges; sie ist die unterscheidende Grenze (p,EÜopiov)102 und
Vermittlung zugleich - Vermittlung ebensosehr im konstitutiven wie
im reduktiven Sinne d. h. der Rückbindung des Sinnenfälligen an das
Intelligible.
Vermittelnde Funktion hat aufgrund ihres Wesensbezugs zur Uni-
versal-Seele auch die menschliche Seele. Sie ist sozusagen „doppel-
lebig“103: vom Intelligiblen begründet und in ihrer zeitlichen Exi-
stenz immer noch in ihm gründend; hieraus allein verfügt sie über
die reduktive Kraft, d. h. über die Fähigkeit, alles Materielle und Kör-
perhafte ins Intelligible erkennend zurückzuführen. Ihr Mitte-Charak-
ter postuliert zugleich, daß sie sich durch Reflexion immer mehr
aus der disparaten Vielheit zurückziehe und sich dadurch der ur-
sprunghaften Einheit ähnlich mache, um den Ursprung schließlich
selbst zu berühren oder mit ihm eins zu werden. In sachlicher
Nähe zu dem primär von Proklos bestimmten Liber de Causis104
Deus animam ... ab inferis ad supema retrahit. VI 9; 212: ... statim a formae
corporalis aspectu ad spiritalis atque divinae considerationem erigimur. Ebd.:
Incipit (amor omnis) ab aspectu ... ascendit in mentem. V 2; 179: Der Weg
vom Äußeren als Ansatzpunkt zum Inneren durch Eros. I 3; 140: conversio,
formatio.
101 Zur neuplatonischen Entfaltung des platonischen Gedankens „Seele als Mitte
und Sitz des Mathematischen“, welches zwischen dem reinen Intelligiblen und dem
Sinnenfälligen vermittelt: J. Trouillard, „La mediation de l’äme“, in: L’un et l’äme
selon Proclos, Paris 1972,27ff. W. Beierwaltes, Proklos 196ff, 200ff, 205ff. Ders. Plo-
tin 51 ff.
102 Plot. IV 4,3,11.
103 Plot. IV 8,4,31 ff.
104 Prop. 2: Anima est in horizonte aetemitatis inferius et supra tempus. Vgl. hierzu:
Philosophische Rundschau 11, 1964, 213f. - Thomas von Aquin, Summa contra
gentiles II 68: Anima intellectualis dicitur esse quasi quidam horizon et con-
finium corporeorum et incorporeorum. Ficino, Brief an J. Bracciolinus Poggi,
Opera I 657: ... in orizonte, id est, in confinio.
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Das Wirken der Welt-Seele als Vermittlung zur Einheit und zum
Grunde hin und damit auch das Wirken von amor in Welt und
Mensch ist bedingt durch den ontologischen Mitte-Charakter des
Seelischen überhaupt. Dies ist ein originär neuplatonischer Grund-
gedanke: Seele ist seiende und zugleich wirkende Mitte. Sie ist selbst
durch eine intensivere Form der Einheit, den Nus101, begründet und
kann nur als solche die seinskonstitutive Einheit in die Existenz
der sinnenfälligen Welt hinein vermitteln. In ihr also, als einem
eigenen hypostatischen Bereich, durchdringen sich Geistiges und
Sinnenfälliges; sie ist die unterscheidende Grenze (p,EÜopiov)102 und
Vermittlung zugleich - Vermittlung ebensosehr im konstitutiven wie
im reduktiven Sinne d. h. der Rückbindung des Sinnenfälligen an das
Intelligible.
Vermittelnde Funktion hat aufgrund ihres Wesensbezugs zur Uni-
versal-Seele auch die menschliche Seele. Sie ist sozusagen „doppel-
lebig“103: vom Intelligiblen begründet und in ihrer zeitlichen Exi-
stenz immer noch in ihm gründend; hieraus allein verfügt sie über
die reduktive Kraft, d. h. über die Fähigkeit, alles Materielle und Kör-
perhafte ins Intelligible erkennend zurückzuführen. Ihr Mitte-Charak-
ter postuliert zugleich, daß sie sich durch Reflexion immer mehr
aus der disparaten Vielheit zurückziehe und sich dadurch der ur-
sprunghaften Einheit ähnlich mache, um den Ursprung schließlich
selbst zu berühren oder mit ihm eins zu werden. In sachlicher
Nähe zu dem primär von Proklos bestimmten Liber de Causis104
Deus animam ... ab inferis ad supema retrahit. VI 9; 212: ... statim a formae
corporalis aspectu ad spiritalis atque divinae considerationem erigimur. Ebd.:
Incipit (amor omnis) ab aspectu ... ascendit in mentem. V 2; 179: Der Weg
vom Äußeren als Ansatzpunkt zum Inneren durch Eros. I 3; 140: conversio,
formatio.
101 Zur neuplatonischen Entfaltung des platonischen Gedankens „Seele als Mitte
und Sitz des Mathematischen“, welches zwischen dem reinen Intelligiblen und dem
Sinnenfälligen vermittelt: J. Trouillard, „La mediation de l’äme“, in: L’un et l’äme
selon Proclos, Paris 1972,27ff. W. Beierwaltes, Proklos 196ff, 200ff, 205ff. Ders. Plo-
tin 51 ff.
102 Plot. IV 4,3,11.
103 Plot. IV 8,4,31 ff.
104 Prop. 2: Anima est in horizonte aetemitatis inferius et supra tempus. Vgl. hierzu:
Philosophische Rundschau 11, 1964, 213f. - Thomas von Aquin, Summa contra
gentiles II 68: Anima intellectualis dicitur esse quasi quidam horizon et con-
finium corporeorum et incorporeorum. Ficino, Brief an J. Bracciolinus Poggi,
Opera I 657: ... in orizonte, id est, in confinio.