Thukydides und die Anfänge der athenischen Arche 19
J. 477 alle Hellenen so blind gewesen sein sollen, daß sie Athen gegen-
über ihre Freiheit auf ewige Zeit - und zwar freiwillig - preisgaben35.
Noch unwahrscheinlicher ist es, daß die Athener damals ihr Schicksal
so absolut an das Schicksal aller ihrer Verbündeten gebunden hätten.
Denn auch für den Hegemon bedeutete ein derartiger Vertrag eine erheb-
liche Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das erhellt aus den Verhand-
lungen zwischen Athen und Korkyra am Ende der Pentekontaetie: die
Korkyräer boten den Athenern ein Bündnis ώστε τούς αύτούς έχθρούς
καί φίλους νομίζειν an (Thuk. 144,1); aber die Athener schreckten vor
einem solchen Bündnis zurück; denn sie fürchteten, gegen ihren Willen in
einen Krieg mit Korinth verwickelt zu werden. Deshalb begnügten sie sich
mit einem Defensivbündnis (έπιμαχία). Soll man glauben, daß im J. 477
die Athener mit allen Hellenen außer den Peloponnesiem eine Verpflich-
tung eingingen, die sie um 433 mit den Korkyräem allein ablehnten, um
Herr ihrer Außenpolitik zu bleiben36? Der Inhalt des Eides, wie ihn Ari-
stoteles wiedergibt, läßt sich mit dem, was wir von den zwischenstaatli-
chen Beziehungen unter den Hellenen im V. Jh. sonst wissen, kaum ver-
einbaren.
So müßten wir, wenn wir den Eid, von dem Aristoteles spricht, unbe-
dingt auf den Hegemoniewechsel des J. 477 beziehen wollten, schwer-
wiegende Wider Sprüche zwischen Aristoteles und Thukydides in Kauf
nehmen. Wir müßten ferner vermuten, daß sich Aristoteles ungenau aus-
gedrückt hat, indem er Ionier statt Hellenen geschrieben hat. Und schließ-
lich wäre das Ergebnis historisch unbefriedigend. Ganz anders sieht die
Angelegenheit aus, wenn man Aristoteles beim Wort nimmt und im
Zusammenhang liest. Nirgends behauptet Aristoteles, daß das Bündnis
zwischen Athen und den Ioniern anläßlich des Hegemoniewechsels und
der Veranlagung des Phoros geschlossen worden sei. In den Abschnit-
ten 23 und 24 seiner Athenaion Politeia geht es ihm ja gar nicht um die
Gründung des delisch-attischen Seebundes, sondern um die Bewertung
des Aristeides als Staatsmann im Vergleich mit Themistokles. Aristeides,
sagt er, ragte durch sein politisches Geschick und seine Gerechtigkeit
35 J. A. O. Larsen, Harv. St. 51 (1940) 199f. glaubt, daß sich die Verbündeten die
Folgen ihrer Entscheidung nicht wirklich überlegt haben!
36 Vgl. die treffliche Bemerkung von V. Martin, La vie internationale 152: „Cette
Cite (Athen) ne peut lier d’avance sa politique exterieure ä celle d’une Cyclade
quelconque“.
J. 477 alle Hellenen so blind gewesen sein sollen, daß sie Athen gegen-
über ihre Freiheit auf ewige Zeit - und zwar freiwillig - preisgaben35.
Noch unwahrscheinlicher ist es, daß die Athener damals ihr Schicksal
so absolut an das Schicksal aller ihrer Verbündeten gebunden hätten.
Denn auch für den Hegemon bedeutete ein derartiger Vertrag eine erheb-
liche Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das erhellt aus den Verhand-
lungen zwischen Athen und Korkyra am Ende der Pentekontaetie: die
Korkyräer boten den Athenern ein Bündnis ώστε τούς αύτούς έχθρούς
καί φίλους νομίζειν an (Thuk. 144,1); aber die Athener schreckten vor
einem solchen Bündnis zurück; denn sie fürchteten, gegen ihren Willen in
einen Krieg mit Korinth verwickelt zu werden. Deshalb begnügten sie sich
mit einem Defensivbündnis (έπιμαχία). Soll man glauben, daß im J. 477
die Athener mit allen Hellenen außer den Peloponnesiem eine Verpflich-
tung eingingen, die sie um 433 mit den Korkyräem allein ablehnten, um
Herr ihrer Außenpolitik zu bleiben36? Der Inhalt des Eides, wie ihn Ari-
stoteles wiedergibt, läßt sich mit dem, was wir von den zwischenstaatli-
chen Beziehungen unter den Hellenen im V. Jh. sonst wissen, kaum ver-
einbaren.
So müßten wir, wenn wir den Eid, von dem Aristoteles spricht, unbe-
dingt auf den Hegemoniewechsel des J. 477 beziehen wollten, schwer-
wiegende Wider Sprüche zwischen Aristoteles und Thukydides in Kauf
nehmen. Wir müßten ferner vermuten, daß sich Aristoteles ungenau aus-
gedrückt hat, indem er Ionier statt Hellenen geschrieben hat. Und schließ-
lich wäre das Ergebnis historisch unbefriedigend. Ganz anders sieht die
Angelegenheit aus, wenn man Aristoteles beim Wort nimmt und im
Zusammenhang liest. Nirgends behauptet Aristoteles, daß das Bündnis
zwischen Athen und den Ioniern anläßlich des Hegemoniewechsels und
der Veranlagung des Phoros geschlossen worden sei. In den Abschnit-
ten 23 und 24 seiner Athenaion Politeia geht es ihm ja gar nicht um die
Gründung des delisch-attischen Seebundes, sondern um die Bewertung
des Aristeides als Staatsmann im Vergleich mit Themistokles. Aristeides,
sagt er, ragte durch sein politisches Geschick und seine Gerechtigkeit
35 J. A. O. Larsen, Harv. St. 51 (1940) 199f. glaubt, daß sich die Verbündeten die
Folgen ihrer Entscheidung nicht wirklich überlegt haben!
36 Vgl. die treffliche Bemerkung von V. Martin, La vie internationale 152: „Cette
Cite (Athen) ne peut lier d’avance sa politique exterieure ä celle d’une Cyclade
quelconque“.