Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft
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wirklichung der gleichen Werte im gleichen Rahmen und mit dem
gleichen Ziel durch gleichartige Leistungen, welche die früheren durch
eine irgendwie meßbare Quantität übertrafen - denn das römische
Ideal der Einzelpersönlichkeit war nicht anders zu sein als die an-
deren, sondern herauszuragen unter den Gleichen; und wer in der
römischen Gesellschaft etwas gelten wollte, der fühlte sich verpflichtet,
diese Leistungen zu erbringen. Sonderlinge, deren Verhalten Roms
Normen widersprach, waren im sozialen Wettrennen im allgemeinen
disqualifiziert, und wenn sie sich trotzdem der Hochachtung erfreuten,
dann wegen Eigenschaften, die sich nach den gemeinschaftlichen
Wertmaßstäben als anerkennungswert erwiesen und das nonkonfor-
mistische Getue und Gehabe tolerieren ließen. Denn etwa unser
häufig zitierter Gewährsmann, Dion von Prusa, dessen Haartracht
und Kleidung derjenigen eines vornehmen Bürgers widersprachen,
verdankte sein hohes Prestige nicht seiner ungepflegten Erscheinung,
sondern seiner ethischen Lehre - und nicht zuletzt der Summe seiner
Aufwendungen, mit denen er in seiner Heimatstadt nach eigener
Aussage alle anderen Menschen übertraf132.
Somit besaß der anonyme 'kleine Mann’ keine Chance, sich durch
persönliche Eigenart gesellschaftliche Geltung zu verschaffen. Aber
auch von dem reichen, politisch interessierten und aktiven, gebildeten
Angehörigen der gehobenen Schichten wurde verlangt, daß er sich -
um dies scharf zu formulieren - als Mensch eigener und einziger
Art zugunsten der Gemeinschaft und deren alles beherrschenden
Norm aufgab. Dementsprechend beschrieb Plutarch den Angehörigen
der Oberschicht: Er soll nicht selbstgefällig und eigenwillig, sondern
stets anderen gegenüber hilfsbereit sein; in der Kleidung, Unterbrin-
gung und Ernährung seiner Kinder sowie in der Bereitstellung von
Dienern für seine Frau soll er sich ähnlich und gleich wie andere
verhalten; er soll bestrebt sein, vom gleichen Schlag zu sein und
gleichermaßen Mensch zu sein wie jeder133. Und dementsprechend
verlangte Plinius, daß der römische Senator die prima vitae tempora
et media dem Staat und nur die extrema den persönlichen Interessen
132 Dion, Or. 46,6. Zu den Spenden, Stiftungen und übrigen Wohltaten Dions in
Prusa siehe C. P. Jones, The Roman World of Dio Chrysostom (Cambridge/
Mass. - London 1978) 104ff.
133 Plut., Praec. ger. rei publ. 31 (823 A-B). Vgl. dazu Th. Renoirte, Les «Conseils
politiques» de Plutarque. Une lettre ouverte aux grecs ä l’epoque de Trajan
(Louvain 1951) 62 f.
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wirklichung der gleichen Werte im gleichen Rahmen und mit dem
gleichen Ziel durch gleichartige Leistungen, welche die früheren durch
eine irgendwie meßbare Quantität übertrafen - denn das römische
Ideal der Einzelpersönlichkeit war nicht anders zu sein als die an-
deren, sondern herauszuragen unter den Gleichen; und wer in der
römischen Gesellschaft etwas gelten wollte, der fühlte sich verpflichtet,
diese Leistungen zu erbringen. Sonderlinge, deren Verhalten Roms
Normen widersprach, waren im sozialen Wettrennen im allgemeinen
disqualifiziert, und wenn sie sich trotzdem der Hochachtung erfreuten,
dann wegen Eigenschaften, die sich nach den gemeinschaftlichen
Wertmaßstäben als anerkennungswert erwiesen und das nonkonfor-
mistische Getue und Gehabe tolerieren ließen. Denn etwa unser
häufig zitierter Gewährsmann, Dion von Prusa, dessen Haartracht
und Kleidung derjenigen eines vornehmen Bürgers widersprachen,
verdankte sein hohes Prestige nicht seiner ungepflegten Erscheinung,
sondern seiner ethischen Lehre - und nicht zuletzt der Summe seiner
Aufwendungen, mit denen er in seiner Heimatstadt nach eigener
Aussage alle anderen Menschen übertraf132.
Somit besaß der anonyme 'kleine Mann’ keine Chance, sich durch
persönliche Eigenart gesellschaftliche Geltung zu verschaffen. Aber
auch von dem reichen, politisch interessierten und aktiven, gebildeten
Angehörigen der gehobenen Schichten wurde verlangt, daß er sich -
um dies scharf zu formulieren - als Mensch eigener und einziger
Art zugunsten der Gemeinschaft und deren alles beherrschenden
Norm aufgab. Dementsprechend beschrieb Plutarch den Angehörigen
der Oberschicht: Er soll nicht selbstgefällig und eigenwillig, sondern
stets anderen gegenüber hilfsbereit sein; in der Kleidung, Unterbrin-
gung und Ernährung seiner Kinder sowie in der Bereitstellung von
Dienern für seine Frau soll er sich ähnlich und gleich wie andere
verhalten; er soll bestrebt sein, vom gleichen Schlag zu sein und
gleichermaßen Mensch zu sein wie jeder133. Und dementsprechend
verlangte Plinius, daß der römische Senator die prima vitae tempora
et media dem Staat und nur die extrema den persönlichen Interessen
132 Dion, Or. 46,6. Zu den Spenden, Stiftungen und übrigen Wohltaten Dions in
Prusa siehe C. P. Jones, The Roman World of Dio Chrysostom (Cambridge/
Mass. - London 1978) 104ff.
133 Plut., Praec. ger. rei publ. 31 (823 A-B). Vgl. dazu Th. Renoirte, Les «Conseils
politiques» de Plutarque. Une lettre ouverte aux grecs ä l’epoque de Trajan
(Louvain 1951) 62 f.