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Alföldy, Géza; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1980, 8. Abhandlung): Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft des Roemischen Kaiserreiches: Erwartungen u. Wertmassstäbe ; vorgetragen am 1. Dezember 1979 — Heidelberg: Winter, 1980

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.45485#0043
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Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft

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er nicht für eine Nebensache oder bloße Plackerei, wenn er etwa mit
Sorgen schwer beladen ist, sondern für seine persönliche Aufgabe
und seinen Beruf. Beschäftigt er sich mit etwas anderem, so ist er
der Meinung, daß er etwas Unwichtiges tue, das nicht zu seinem
Pflichtenkreis gehöre’140. Das ist das Entscheidende: Natürlich konnte
man sich privat, im otium, rein persönlichen Interessen widmen -
aber aus der Sicht der Gemeinschaft war dies eben unwichtig und
irrelevant. Ciceros o^zczwm-Ideal wirkte erstaunlich lange.
Das hier entworfene Bild wäre aber einseitig und falsch, wenn wir
die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft des Römischen Kaiser-
reiches nur dadurch kennzeichnen wollten, daß ihm für die Verwirk-
lichung seiner Persönlichkeit kaum individueller Spielraum blieb.
Nichts wäre unhistorischer als die Vorstellung von einer römischen
Welt, in welcher sich der Einzelne beengt fühlt, sich unglücklich
absetzt und namenlos in der Masse verschwindet: Das wäre das Bild
von einer modernen totalitären Gesellschaft. Denn die wichtigste
Lehre aus dieser Untersuchung sollte nicht einfach die These sein,
daß in Rom die althergebrachten kollektiven Wertvorstellungen in
der Kaiserzeit ähnlich wie - zweifelsfrei - auch in der Republik höher
bewertet wurden als originelle Individualität, sondern die Verbindung
dieser These mit einer ganz anderen: daß im Kaiserreich offensicht-
lich sehr viele Römer bestrebt waren, etwas zu leisten, das nach den
Maßstäben der gemeinschaftlichen Wertvorstellungen selten, beispiel-
haft, einzigartig, unübertrefflich, unvergleichbar, noch nie dagewesen,
erstmalig, einmalig war - oder daß sie zumindest eifrig bemüht
waren, das Routinemäßige bestens zu erfüllen, damit sie das Sozial-
prestige eines einzigartigen Menschen erlangten. Das ist weder die
Mentalität unterdrückter Menschen totalitärer Staaten noch diejenige
dekadenter Gesellschaften. Gerade weil dieses Streben immer von den
traditionellen Wertvorstellungen der römischen Gesellschaft angeregt,
geleitet, geregelt oder zumindest aufgefangen wurde, müssen wir in
ihm eine ungeheure stabilisierende Kraft für das Römische Reich
erblicken. Um einen Gedanken von V. Pöschl aufzugreifen: Die
Kontinuität des römischen Wertsystems, verbunden mit dem An-
spruch, daß der Einzelne im Rahmen dieses Wertsystems immer
sein Bestes und zugleich mehr als sein Vorgänger leistet, ist vielleicht

140

Dion, Or. 3,55.
 
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