Regio Beatitudinis
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menschlicher gestalten; ganz allgemein: die Entwicklung der wahren
Menschlichkeit des Menschen, in der er „zu sich“ und „dem Seinen“
kommt, Konstitution einer Gesellschaft, in der „the pursuit of happi-
ness“6 nicht zu einem nur ironisch zitierbaren Grundrecht verkommt.
Diese Formeln haben alle einen mehr oder weniger stark ausgeprägten
utopischen Grundzug; sie beschreiben nicht so sehr, was ist, sondern
postulieren oder antizipieren, was sein könnte oder sein sollte. Freilich
war der Blick auf das Kommende der Idee vom Glück in bestimmtem
Sinne immer schon eigen - „in alium maturescimus partum“ (Seneca,
ep. 102), wenn wir uns in das wahre Selbst befreien -, die Prädominanz
des Utopischen aber mag zurecht auch Skepsis gegen die Reflexion auf
Glück zu provozieren, dies insbesondere angesichts des gesellschaftli-
chen Verstrickungszusammenhangs von vielfältigen Zwängen mit dem
Bedürfnis nach realer Freiheit des Individuums; Skepsis auch gegen die
Möglichkeit überhaupt, das Glück einmal fraglos zu haben. „Mit dem
Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, son-
dern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nach-
bild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glückli-
cher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm
heraustreten: er wäre wie ein Geborener“7. Das psychoanalytische Bild
zerbricht jedoch, weil wir „Geborene“ sind, weil wir den Zustand refle-
xionsloser Naivität weder festhalten noch in ihn zurückkehren können.
Daraus ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit einer Reflexion
auch auf die Idee von Glück oder gerade auf sie, sofern er sich über-
haupt - nicht utopisch überanstrengt - um sein Telos kümmert. Das
,,‘rien faire comme une bete’, auf dem Wasser liegen und friedlich in
den Himmel schauen“ könnte schwerlich als Bild eines durch Vernunft
ständig herausgeforderten und vielleicht gerade darin glücklichen Le-
bens gelten; freilich wäre dieser zumindest intendierten Befriedung der
Reflexion nicht ein Plädoyer für Praxismus, Aktion, Prozeß oder Fort-
schritt allein als Quelle des Glücks gegenüberzusetzen. Glück scheint
6 ‘The pursuit of happiness’ gehört zu den Grundrechten, die in der amerikanischen
Declaration of Independence (4. Juli 1776) verankert sind (in keiner europäischen
Verfassung ist dieses Recht auf Glück zu finden): „We hold these truths to be self-evi-
dent, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with cer-
tain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happi-
ness.“ VgL hierzu C. L. Becker, The Declaration of Independence, New York 19422.
Η. Μ. Jones, The pursuit of happiness, Cambridge 1953 (über die bisweilen grotesken
Folgen dieser Rechtsformel in der Rechtssprechung).
7 T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt
1964, 143.
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menschlicher gestalten; ganz allgemein: die Entwicklung der wahren
Menschlichkeit des Menschen, in der er „zu sich“ und „dem Seinen“
kommt, Konstitution einer Gesellschaft, in der „the pursuit of happi-
ness“6 nicht zu einem nur ironisch zitierbaren Grundrecht verkommt.
Diese Formeln haben alle einen mehr oder weniger stark ausgeprägten
utopischen Grundzug; sie beschreiben nicht so sehr, was ist, sondern
postulieren oder antizipieren, was sein könnte oder sein sollte. Freilich
war der Blick auf das Kommende der Idee vom Glück in bestimmtem
Sinne immer schon eigen - „in alium maturescimus partum“ (Seneca,
ep. 102), wenn wir uns in das wahre Selbst befreien -, die Prädominanz
des Utopischen aber mag zurecht auch Skepsis gegen die Reflexion auf
Glück zu provozieren, dies insbesondere angesichts des gesellschaftli-
chen Verstrickungszusammenhangs von vielfältigen Zwängen mit dem
Bedürfnis nach realer Freiheit des Individuums; Skepsis auch gegen die
Möglichkeit überhaupt, das Glück einmal fraglos zu haben. „Mit dem
Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, son-
dern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nach-
bild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glückli-
cher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm
heraustreten: er wäre wie ein Geborener“7. Das psychoanalytische Bild
zerbricht jedoch, weil wir „Geborene“ sind, weil wir den Zustand refle-
xionsloser Naivität weder festhalten noch in ihn zurückkehren können.
Daraus ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit einer Reflexion
auch auf die Idee von Glück oder gerade auf sie, sofern er sich über-
haupt - nicht utopisch überanstrengt - um sein Telos kümmert. Das
,,‘rien faire comme une bete’, auf dem Wasser liegen und friedlich in
den Himmel schauen“ könnte schwerlich als Bild eines durch Vernunft
ständig herausgeforderten und vielleicht gerade darin glücklichen Le-
bens gelten; freilich wäre dieser zumindest intendierten Befriedung der
Reflexion nicht ein Plädoyer für Praxismus, Aktion, Prozeß oder Fort-
schritt allein als Quelle des Glücks gegenüberzusetzen. Glück scheint
6 ‘The pursuit of happiness’ gehört zu den Grundrechten, die in der amerikanischen
Declaration of Independence (4. Juli 1776) verankert sind (in keiner europäischen
Verfassung ist dieses Recht auf Glück zu finden): „We hold these truths to be self-evi-
dent, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with cer-
tain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happi-
ness.“ VgL hierzu C. L. Becker, The Declaration of Independence, New York 19422.
Η. Μ. Jones, The pursuit of happiness, Cambridge 1953 (über die bisweilen grotesken
Folgen dieser Rechtsformel in der Rechtssprechung).
7 T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt
1964, 143.