Regio Beatitudinis
11
Philosophierens und das Ziel menschlichen Handelns zugleich zeigt sich
dem Denken in der es leitenden ‘phronesis’11. Deshalb ist Anweisung
zum Philosophieren Anweisung zur ‘phronesis’. ‘Phronesis’ ist nicht le-
diglich ein anderer, beliebig austauschbarer Titel für ‘philosophia’, son-
dern macht den innersten Sinn von Philosophie und Philosophieren er-
kennbar. ‘Phronesis’ oder ‘phronein’ ganz allgemein als eine durch das
Gute bestimmte Einsicht und als im Handeln wirksames Denken ver-
stehbar, ist dem Menschen „das Ziel gemäß [seiner] Natur, das Letzte,
um dessentwillen wir sind“12: ‘phronesis’ als Denkkraft und zugleich als
praktisches Wissen oder praktische Vernunft ist das beste der Güter, ä-
ριστον πάντων13, was am meisten des in uns Seienden verdient, daß es
„ergriffen“ werde; die in ihm beschlossene Möglichkeit soll zum „Werk
der Seele“ (έργον ψυχής14), d. h. im Denken sowohl als auch im Han-
deln wirklich und wirksam werden. Ursprung und maßgebender Voll-
zug von ‘phronesis’ und ‘phronein’ aber ist die mit ‘praxis’ insgesamt
untrennbar verflochtene ‘theoria’ oder das ‘theorein’. Dieses Grund-
wort griechischen Denkens ist im lateinischen Sprachbereich durch die
Begriffe contemplatio, cognitio, speculatio oder vis io übersetzt und in-
terpretiert worden15. Es faßt in sich: Forschen und Frage, Sehen auf
. . ., Zuschauen und Betrachten, letzteres verstanden als das Trachten
des Denkens, Sein insgesamt und dessen Grund empfangend zu verneh-
men. Da dieses Betrachten Grundverfassung des Philosophierens ist
und so den ‘bios theoretikos’ trägt.und führt und zugleich den ‘bios
praktikos’ als Prinzip bestimmt, wird deutlich, wie weit sich die Aussage
von einem genuinen Verständnis griechischen Denkens entfernt: ‘theo-
ria’ sei „bloßes, unbeteiligtes Zuschauen“, im Grund kritikloses, praxis-
irrelevantes Sich-in-sich-selbst-Verspinnen des Denkens, das durch
Verabsolutierung der „Theorie“, in die Feme wirkend, zum Verursa-
cher neuzeitlicher Ideologien und nicht minder zur Affirmation des Ge-
gebenen werde.
11 Zur Eingrenzung der Bedeutung von ‘phronesis’ in der Nikomachischen Ethik gegen-
über dem Protreptikos, die einer Entfernung von der ursprünglich platonischen Posi-
tion gleichkommt, s. W. Jaeger, Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen
Lebensideals, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1928,
408. Ders., Aristoteles, Berlin 1923, 82f.
12 Protreptikos B 17 (ed. Düring, Quellen der Philosophie 9, Frankfurt 1969).
13 B 20. B 40. B 70.
14 B 70.
15 Vgl. hierzu P. Boesch, Θεωρός, Göttingen 1908. F. Boll, Vita contemplativa, Heidel-
berg 1922, 29f (für cognitio, contemplatio, consideratio). W. Beierwaltes, Artikel
‘Betrachtung’ in: Lexikon des Mittelalters, München-Zürich 1980, 2085-87.
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Philosophierens und das Ziel menschlichen Handelns zugleich zeigt sich
dem Denken in der es leitenden ‘phronesis’11. Deshalb ist Anweisung
zum Philosophieren Anweisung zur ‘phronesis’. ‘Phronesis’ ist nicht le-
diglich ein anderer, beliebig austauschbarer Titel für ‘philosophia’, son-
dern macht den innersten Sinn von Philosophie und Philosophieren er-
kennbar. ‘Phronesis’ oder ‘phronein’ ganz allgemein als eine durch das
Gute bestimmte Einsicht und als im Handeln wirksames Denken ver-
stehbar, ist dem Menschen „das Ziel gemäß [seiner] Natur, das Letzte,
um dessentwillen wir sind“12: ‘phronesis’ als Denkkraft und zugleich als
praktisches Wissen oder praktische Vernunft ist das beste der Güter, ä-
ριστον πάντων13, was am meisten des in uns Seienden verdient, daß es
„ergriffen“ werde; die in ihm beschlossene Möglichkeit soll zum „Werk
der Seele“ (έργον ψυχής14), d. h. im Denken sowohl als auch im Han-
deln wirklich und wirksam werden. Ursprung und maßgebender Voll-
zug von ‘phronesis’ und ‘phronein’ aber ist die mit ‘praxis’ insgesamt
untrennbar verflochtene ‘theoria’ oder das ‘theorein’. Dieses Grund-
wort griechischen Denkens ist im lateinischen Sprachbereich durch die
Begriffe contemplatio, cognitio, speculatio oder vis io übersetzt und in-
terpretiert worden15. Es faßt in sich: Forschen und Frage, Sehen auf
. . ., Zuschauen und Betrachten, letzteres verstanden als das Trachten
des Denkens, Sein insgesamt und dessen Grund empfangend zu verneh-
men. Da dieses Betrachten Grundverfassung des Philosophierens ist
und so den ‘bios theoretikos’ trägt.und führt und zugleich den ‘bios
praktikos’ als Prinzip bestimmt, wird deutlich, wie weit sich die Aussage
von einem genuinen Verständnis griechischen Denkens entfernt: ‘theo-
ria’ sei „bloßes, unbeteiligtes Zuschauen“, im Grund kritikloses, praxis-
irrelevantes Sich-in-sich-selbst-Verspinnen des Denkens, das durch
Verabsolutierung der „Theorie“, in die Feme wirkend, zum Verursa-
cher neuzeitlicher Ideologien und nicht minder zur Affirmation des Ge-
gebenen werde.
11 Zur Eingrenzung der Bedeutung von ‘phronesis’ in der Nikomachischen Ethik gegen-
über dem Protreptikos, die einer Entfernung von der ursprünglich platonischen Posi-
tion gleichkommt, s. W. Jaeger, Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen
Lebensideals, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1928,
408. Ders., Aristoteles, Berlin 1923, 82f.
12 Protreptikos B 17 (ed. Düring, Quellen der Philosophie 9, Frankfurt 1969).
13 B 20. B 40. B 70.
14 B 70.
15 Vgl. hierzu P. Boesch, Θεωρός, Göttingen 1908. F. Boll, Vita contemplativa, Heidel-
berg 1922, 29f (für cognitio, contemplatio, consideratio). W. Beierwaltes, Artikel
‘Betrachtung’ in: Lexikon des Mittelalters, München-Zürich 1980, 2085-87.