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Werner Beierwaltes
Das Wesen von ‘theoria’ und der Sinn des ‘bios theoretikos’, deren
Elemente Aristoteles im Dialog ‘Über Philosophie’ und im ‘Protrepti-
kos’ nur formelhaft nennt, werden im 7. Kapitel des X. Buches der Ni-
komachischen Ethik von ihrem Grunde her entfaltet.
Voraussetzung für den Vollzug von ‘theoria’ ist Muße16. Sie ist ein
den Akt des Philosophierens durchtragendes und bestimmendes Prin-
zip, eine Grundhaltung, die Philosophieren im Sinne des Aristoteles
erst ermöglicht. Ihr steht entgegen das geschäftige Sich-Verlieren an
das Mannigfache. Durch Muße nimmt sich das Denken weg von dem
ihm Fremden, um sich in das ihm Eigene, in den Grund seines Selbst zu
sammeln. Während zum Beispiel die von ihr selbst her un-müßige Tä-
tigkeit eines Politikers neben den im engeren und eigentlichen Sinne
politischen Zielen — so wie Aristoteles dies beschreibt - immer noch
Macht und Ehre sucht, sucht die in unnützlicher und gerade deshalb
nicht beliebig verfügbarer Muße sich vollziehende Tätigkeit des philo-
sophierenden Denkens, die ‘energeia theoretike’, nichts außer ihr
selbst17. Sie ist sich selbst Ziel und genügt sich selbst (‘autarkes’). Da
das denkende Betrachten um seiner selbst willen „reines Denken“18
und deshalb in ihm außer ihm selbst kein anderer Nutzen gesucht wer-
den kann und darf19, ist es im wahren Sinne frei: in sich seiend nur es
selbst um seiner selbst willen; denn „frei ist, wer um seiner selbst und
nicht um eines Anderen willen ist“20. Es ist demnach unfrei und unphi-
losophisch, über das höchste Ziel der menschlichen Existenz hinaus
noch nach einem Nutzen zu fragen, unter dessen Botmäßigkeit eben
dieses Ziel stünde. In seiner Politik21 sagt deshalb Aristoteles: „Überall
das Nützliche zu suchen, ist am wenigsten den Hochherzigen und den
Freien eigen“, sondern der Hang des βάναυσος. Wenn sich daher das
betrachtende Denken als ein Moment menschlicher Freiheit vollzieht
und sich in der Muße vermittelt, so ist es nicht als „untätig“ oder „un-
praktisch“ zu denken, sondern vielmehr als höchste Tätigkeit die voll-
endete Einheit von ‘theoria’ und ‘praxis’, von der her alle ‘praxis’ maß-
gebend bestimmt wird. So ergibt sich zurecht als Bestimmung von
16 Eth. Nie. 1177 b 4. Met. 981 b 23 (Wissenschaft entsteht nur im Medium der Muße -
ohne Abzweckung). Pol. 1334 a 25. 1337 b 30ff.
17 Eth. Nie. 1177 b 19.
18 Protreptikos B 27.
19 Die ‘theoria’ ist um ihrer selbst willen liebenswert: Eth. Nie. 1177 b 1. Sie ist sich
selbst der höchste Nutzen: Protreptikos B 42f. Vorblickend ist auf Augustinus En. in
Psalm 90, 2, 13 zu verweisen: Tota merces nostra visio est.
20 Met. 982 b 25-28.
21 Pol. 1337 b 8f. 1338 b 2ff.
Werner Beierwaltes
Das Wesen von ‘theoria’ und der Sinn des ‘bios theoretikos’, deren
Elemente Aristoteles im Dialog ‘Über Philosophie’ und im ‘Protrepti-
kos’ nur formelhaft nennt, werden im 7. Kapitel des X. Buches der Ni-
komachischen Ethik von ihrem Grunde her entfaltet.
Voraussetzung für den Vollzug von ‘theoria’ ist Muße16. Sie ist ein
den Akt des Philosophierens durchtragendes und bestimmendes Prin-
zip, eine Grundhaltung, die Philosophieren im Sinne des Aristoteles
erst ermöglicht. Ihr steht entgegen das geschäftige Sich-Verlieren an
das Mannigfache. Durch Muße nimmt sich das Denken weg von dem
ihm Fremden, um sich in das ihm Eigene, in den Grund seines Selbst zu
sammeln. Während zum Beispiel die von ihr selbst her un-müßige Tä-
tigkeit eines Politikers neben den im engeren und eigentlichen Sinne
politischen Zielen — so wie Aristoteles dies beschreibt - immer noch
Macht und Ehre sucht, sucht die in unnützlicher und gerade deshalb
nicht beliebig verfügbarer Muße sich vollziehende Tätigkeit des philo-
sophierenden Denkens, die ‘energeia theoretike’, nichts außer ihr
selbst17. Sie ist sich selbst Ziel und genügt sich selbst (‘autarkes’). Da
das denkende Betrachten um seiner selbst willen „reines Denken“18
und deshalb in ihm außer ihm selbst kein anderer Nutzen gesucht wer-
den kann und darf19, ist es im wahren Sinne frei: in sich seiend nur es
selbst um seiner selbst willen; denn „frei ist, wer um seiner selbst und
nicht um eines Anderen willen ist“20. Es ist demnach unfrei und unphi-
losophisch, über das höchste Ziel der menschlichen Existenz hinaus
noch nach einem Nutzen zu fragen, unter dessen Botmäßigkeit eben
dieses Ziel stünde. In seiner Politik21 sagt deshalb Aristoteles: „Überall
das Nützliche zu suchen, ist am wenigsten den Hochherzigen und den
Freien eigen“, sondern der Hang des βάναυσος. Wenn sich daher das
betrachtende Denken als ein Moment menschlicher Freiheit vollzieht
und sich in der Muße vermittelt, so ist es nicht als „untätig“ oder „un-
praktisch“ zu denken, sondern vielmehr als höchste Tätigkeit die voll-
endete Einheit von ‘theoria’ und ‘praxis’, von der her alle ‘praxis’ maß-
gebend bestimmt wird. So ergibt sich zurecht als Bestimmung von
16 Eth. Nie. 1177 b 4. Met. 981 b 23 (Wissenschaft entsteht nur im Medium der Muße -
ohne Abzweckung). Pol. 1334 a 25. 1337 b 30ff.
17 Eth. Nie. 1177 b 19.
18 Protreptikos B 27.
19 Die ‘theoria’ ist um ihrer selbst willen liebenswert: Eth. Nie. 1177 b 1. Sie ist sich
selbst der höchste Nutzen: Protreptikos B 42f. Vorblickend ist auf Augustinus En. in
Psalm 90, 2, 13 zu verweisen: Tota merces nostra visio est.
20 Met. 982 b 25-28.
21 Pol. 1337 b 8f. 1338 b 2ff.