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Werner Beierwaltes
Das an das Denken gerichtete Postulat des Rückgangs in dessen eige-
ne Innerlichkeit setzt mit eben diesem Rückgang den Anfang eines
„Aufstiegs“ im Innern (ascensus in corde118). Die Innerlichkeit des Be-
wußtseins erweist sich als durch unterschiedliche Intensitätsgrade be-
stimmt; Augustinus nennt diese: „Auge der Seele“, Geist (mens) oder
denkende Seele (ratiocinans anima) und das Licht „über“ der mens,
welches identisch ist mit der absoluten Wahrheit, der zeitfreien Unver-
änderlichkeit, identisch mit dem „Was ist“119.
Im Rückgang des Denkens in sich selbst genügt offensichtlich nicht
eine Selbstvergewisserung der denkenden Seele; um ein hinreichendes,
universal sicheres Bewußtsein zu erreichen, ist es notwendig, diesen Be-
reich des Denkens in den Grund eben dieses Denkens zu überschreiten:
Woraus ihm die Einsicht kommt, „von woher das Licht der Vernunft
selbst angezündet wird“. Dies aber ist die im zeitlichen Akt des Rück-
gangs in sich dem Denken ansichtig und einsichtig werdende Wahrheit
selbst. Sie ist im Denken selbst seiend, als dessen Ermöglichungsgrund
in ihm anwesend, zugleich aber ist sie „über“ ihm, also nicht nur der all-
gemeine Grund besonderer Denkakte, sondern der transzendent in sich
selbst und zugleich in der Innerlichkeit des Denkens seiende und wir-
kende, apriorische Grund von Bewußtsein, Denken, Erkennen. Im
Rückgang des Denkens in sich wird daher Wahrheit in ihrer dialekti-
schen Struktur bewußt, In-Sein und Über-Sein zugleich zu sein. Trotz
des Anfanges und Aufstiegs des Denkens im inneren Menschen wird
das Über-Sein oder Anders-Sein der apriorisch im Denken erfahrenen
Wahrheit immer wieder herausgestellt: Das „unveränderliche Licht“
(lux incommutabilis), welches das Denken „über“ sich selbst gewahrt,
ist nicht etwa „aus derselben Art“ größer als das sinnlich erfahrbare,
sondern etwas „ganz Anderes“ (aliud valde ab istis omnibus120). Das
Über-Sein dieses Lichtes der Wahrheit oder des Seins ist bedingt durch
die Tatsache, daß diese im Denken erfahrene Wahrheit offensichtlich
die göttliche, absolute Wahrheit selbst ist; dadurch wird die Differenz
zwischen Absolutheit (creator) und Endlichkeit (creatura) evident: „Sed
superior, quia ipsa fecit me, et ego inferior, quia factus ab ea“121. Die
118 Ascensus in corde: En. in Psalm 83, 10. Conf. XIII9,10: dono tuo accendimur et sur-
sum ferimur; inardescimus et imus. ascendimus ascensiones in corde et cantamus can-
ticum graduum. Conf. IX 10, 24: ascendebamus interius cogitando. Transcendere:
ebd. Transcende et te ipsum: Ver. rel. 39,72.
119 Conf. VII 17,23.
120 Ebd. VII 10,16.
121 Ebd.
Werner Beierwaltes
Das an das Denken gerichtete Postulat des Rückgangs in dessen eige-
ne Innerlichkeit setzt mit eben diesem Rückgang den Anfang eines
„Aufstiegs“ im Innern (ascensus in corde118). Die Innerlichkeit des Be-
wußtseins erweist sich als durch unterschiedliche Intensitätsgrade be-
stimmt; Augustinus nennt diese: „Auge der Seele“, Geist (mens) oder
denkende Seele (ratiocinans anima) und das Licht „über“ der mens,
welches identisch ist mit der absoluten Wahrheit, der zeitfreien Unver-
änderlichkeit, identisch mit dem „Was ist“119.
Im Rückgang des Denkens in sich selbst genügt offensichtlich nicht
eine Selbstvergewisserung der denkenden Seele; um ein hinreichendes,
universal sicheres Bewußtsein zu erreichen, ist es notwendig, diesen Be-
reich des Denkens in den Grund eben dieses Denkens zu überschreiten:
Woraus ihm die Einsicht kommt, „von woher das Licht der Vernunft
selbst angezündet wird“. Dies aber ist die im zeitlichen Akt des Rück-
gangs in sich dem Denken ansichtig und einsichtig werdende Wahrheit
selbst. Sie ist im Denken selbst seiend, als dessen Ermöglichungsgrund
in ihm anwesend, zugleich aber ist sie „über“ ihm, also nicht nur der all-
gemeine Grund besonderer Denkakte, sondern der transzendent in sich
selbst und zugleich in der Innerlichkeit des Denkens seiende und wir-
kende, apriorische Grund von Bewußtsein, Denken, Erkennen. Im
Rückgang des Denkens in sich wird daher Wahrheit in ihrer dialekti-
schen Struktur bewußt, In-Sein und Über-Sein zugleich zu sein. Trotz
des Anfanges und Aufstiegs des Denkens im inneren Menschen wird
das Über-Sein oder Anders-Sein der apriorisch im Denken erfahrenen
Wahrheit immer wieder herausgestellt: Das „unveränderliche Licht“
(lux incommutabilis), welches das Denken „über“ sich selbst gewahrt,
ist nicht etwa „aus derselben Art“ größer als das sinnlich erfahrbare,
sondern etwas „ganz Anderes“ (aliud valde ab istis omnibus120). Das
Über-Sein dieses Lichtes der Wahrheit oder des Seins ist bedingt durch
die Tatsache, daß diese im Denken erfahrene Wahrheit offensichtlich
die göttliche, absolute Wahrheit selbst ist; dadurch wird die Differenz
zwischen Absolutheit (creator) und Endlichkeit (creatura) evident: „Sed
superior, quia ipsa fecit me, et ego inferior, quia factus ab ea“121. Die
118 Ascensus in corde: En. in Psalm 83, 10. Conf. XIII9,10: dono tuo accendimur et sur-
sum ferimur; inardescimus et imus. ascendimus ascensiones in corde et cantamus can-
ticum graduum. Conf. IX 10, 24: ascendebamus interius cogitando. Transcendere:
ebd. Transcende et te ipsum: Ver. rel. 39,72.
119 Conf. VII 17,23.
120 Ebd. VII 10,16.
121 Ebd.