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Tilemann Grimm
Zhuangzi ihn schon gesehen hatte. Auch der Mensch kann, dieser Vor-
stellung gemäß, nur als Verdichtung des Fluidums aufgefaßt werden,
dessen Auflösung der Tod ist. Folglich zählen nur die Sinneserfahrun-
gen, aber deren Verdichtung im Bewußtsein, das durch Stillehalten sei-
ner selbst innewerden kann, führt zum Ganzen, das den Namen Tao
hat, zurück, dessen Erfahrung im Selbst zur Freiheit, Abgelöstheit, die-
ses Selbst führt. Hier setzen nicht Individuationsvorgänge ein, die wei-
terführen könnten zum Freiheitsbegriff als solchem, sondern meditative
Techniken vermitteln Lebensverlängerungserwartung, auch neue Ein-
sichten in Medizin und Sexualität, und außerdem entsteht hier ein neues
ästhetisches Bewußtsein. Wie weit nicht schon buddhistische Einflüsse
mitspielen, ist nicht sicher auszumachen, es scheint, daß die taoistische
Tradition der Laozi und Zhuangzi, bereichert noch durch einen etwas
obskuren Text Liezi, mit diesem Neo-Taoismus eine in sich geschlosse-
ne und gegenseitig interpretierbare Einheit bildet, ja, die erste Phase
der Rezipierung des Buddhismus ist durch weitgehende Verwendung
eines neo-taoistischen Vokabulars gekennzeichnet: ohne diese taoisti-
sche „Philosophie“ kein Primärverständnis des indischen Sanskrit-
Buddhismus!
3. Der dritte Vorgang, auf den im Zusammenhang mit Analogien
zum Philosophiebegriff hingewiesen werden kann, spielt sich im Rah-
men der Buddhismus-Rezeption ab. Sie erfolgt seit dem 1. Jh. n. Chr.,
breitet sich zunächst im chinesischen Süden, hernach im barbarischen
Norden aus, hat von daher immer eine südliche und eine nördliche Va-
riante, erfaßt zunächst die Eliten und gewinnt seit dem 5./6. Jh. eine
rasch anwachsende Popularität, und diese wiederum eher im Norden als
im Süden. China ist im 7. und im 8. Jahrhundert de facto ein buddhisti-
sches Land gewesen.
Das alles ist zu sehen als Aufnahme und Verarbeitung des aus Indien
stammenden buddhistischen und damit auch zu einem guten Teil vedi-
schen und vedantischen Erbes. Der Umstand, daß es sich vornehmlich
um die ohnehin mehr populären Formen des Mahayana-Buddhismus
gehandelt hat mit seinem Polytheismus, seiner Gnadenvermittlung und
seinen Paradieshoffnungen, trägt dazu bei, die chinesische Kulturland-
schaft zu verändern, der Buddhismus wirkt sowohl in der geistigen
Oberschicht als neue Philosophie wie auch unter der Bevölkerung als
neue Religion der Tröstungen und der Hoffnung für ein seliges Leben
nach dem Tod — den frühen Jesuiten in Japan (Anfang 17. Jhdt.) ist der
Mahayana-Buddhismus wie ein Vexierspiegel des Teufels vorgekom-
men. Das Leben wird als Kette der Entstehung in Abhängigkeit ver-
Tilemann Grimm
Zhuangzi ihn schon gesehen hatte. Auch der Mensch kann, dieser Vor-
stellung gemäß, nur als Verdichtung des Fluidums aufgefaßt werden,
dessen Auflösung der Tod ist. Folglich zählen nur die Sinneserfahrun-
gen, aber deren Verdichtung im Bewußtsein, das durch Stillehalten sei-
ner selbst innewerden kann, führt zum Ganzen, das den Namen Tao
hat, zurück, dessen Erfahrung im Selbst zur Freiheit, Abgelöstheit, die-
ses Selbst führt. Hier setzen nicht Individuationsvorgänge ein, die wei-
terführen könnten zum Freiheitsbegriff als solchem, sondern meditative
Techniken vermitteln Lebensverlängerungserwartung, auch neue Ein-
sichten in Medizin und Sexualität, und außerdem entsteht hier ein neues
ästhetisches Bewußtsein. Wie weit nicht schon buddhistische Einflüsse
mitspielen, ist nicht sicher auszumachen, es scheint, daß die taoistische
Tradition der Laozi und Zhuangzi, bereichert noch durch einen etwas
obskuren Text Liezi, mit diesem Neo-Taoismus eine in sich geschlosse-
ne und gegenseitig interpretierbare Einheit bildet, ja, die erste Phase
der Rezipierung des Buddhismus ist durch weitgehende Verwendung
eines neo-taoistischen Vokabulars gekennzeichnet: ohne diese taoisti-
sche „Philosophie“ kein Primärverständnis des indischen Sanskrit-
Buddhismus!
3. Der dritte Vorgang, auf den im Zusammenhang mit Analogien
zum Philosophiebegriff hingewiesen werden kann, spielt sich im Rah-
men der Buddhismus-Rezeption ab. Sie erfolgt seit dem 1. Jh. n. Chr.,
breitet sich zunächst im chinesischen Süden, hernach im barbarischen
Norden aus, hat von daher immer eine südliche und eine nördliche Va-
riante, erfaßt zunächst die Eliten und gewinnt seit dem 5./6. Jh. eine
rasch anwachsende Popularität, und diese wiederum eher im Norden als
im Süden. China ist im 7. und im 8. Jahrhundert de facto ein buddhisti-
sches Land gewesen.
Das alles ist zu sehen als Aufnahme und Verarbeitung des aus Indien
stammenden buddhistischen und damit auch zu einem guten Teil vedi-
schen und vedantischen Erbes. Der Umstand, daß es sich vornehmlich
um die ohnehin mehr populären Formen des Mahayana-Buddhismus
gehandelt hat mit seinem Polytheismus, seiner Gnadenvermittlung und
seinen Paradieshoffnungen, trägt dazu bei, die chinesische Kulturland-
schaft zu verändern, der Buddhismus wirkt sowohl in der geistigen
Oberschicht als neue Philosophie wie auch unter der Bevölkerung als
neue Religion der Tröstungen und der Hoffnung für ein seliges Leben
nach dem Tod — den frühen Jesuiten in Japan (Anfang 17. Jhdt.) ist der
Mahayana-Buddhismus wie ein Vexierspiegel des Teufels vorgekom-
men. Das Leben wird als Kette der Entstehung in Abhängigkeit ver-