22
Tilemann Grimm
sich chinesische Denkkonstanten? Der Vorgang ist insofern den her-
kömmlichen Erfahrungen der Geschichte adäquat, als er aus einer Ket-
te von Zufällen besteht, die dann freilich, nachdem eine kritische Men-
ge des Rezipierten erreicht ist, zu bestimmten Gravitationspunkten
gleichsam hindriften. So beginnt die Rezipierung mit der erst verhält-
nismäßig spät erwachenden Frage nach den Hintergründen der Tech-
nik, die man als Schiffsbau- und Waffentechnik zuerst kennen gelernt
hatte. Die Erkenntnisse, die man daraus gewann, vermittelten den Ein-
druck eines kruden Materialismus, den man zu praktischen Zwecken
gerne übernehmen mochte, ohne sich in der eigenen Weltanschauung
dadurch auch nur im geringsten beirren zu lassen - die Vorstellung von
der spirituellen Kultur des Ostens gegenüber der materiellen Kultur des
Westens hat sich lange Zeit davon bestätigen lassen können. Nebenher
entwickelte sich aber auch ein Strang neuen Denkens, der sich von der
christlichen, wesentlich protestantischen und als solcher angelsächsi-
schen Chinamission herleiten läßt. In dem Maße, wie diese modernisti-
sche Züge aufnahm, verbanden sich mit der Mission auch Wissen-
schaftsvermittlungen, welche nun doch erste Modernisierungsimpulse
auslösten, die mehr waren als nur Techniktransfer, also etwa moderne,
das heißt dann immer auch umgangssprachliche, Zeitungen und Zeit-
schriften als Vorboten einer öffentlichen Meinung, oder die Lösung von
der Begriffsschrift und Übernahme der lateinischen Lautschrift über die
Bibelübersetzungen, die damit zugleich über den Dialekt einen neuen
lokalen Manifestationspunkt bildeten, für die etablierte Herrschafts-
struktur höchst unangenehm - oder auch das Kennenlernen neuer For-
men der politischen Machtausübung, Selbstverwaltung, repräsentative
Körperschaften, Mitbestimmung u. ä. Dies spielte sich noch im 19. Jh.
ab und kam zur Wirkung erst zu Beginn des 20., wenn man von der
dunklen Faszination absieht, die der vermeintlich christliche Taiping-
Staat (1853—1864) zeitweilig ausübte. Die zwei Jahrhunderte vorausge-
gangene „missio per scientias“ der Jesuiten blieb ohne längerfristige
Auswirkungen, verständlich nur, wenn man außer den Folgen des Ri-
tenstreits zugleich berücksichtigt, daß das technische Wissen im 19. Jh.
jene astronomischen, geometrischen, kartographischen und waffentech-
nischen Kenntnisse des 17. und frühen 18. Jh. einigermaßen überholt
hatte.
Westliche Philosophie trat zuerst auf in Gestalt der, wiederum, angel-
sächsischen Utilitaristen und Positivisten. Das unterlag insofern einem
Zufall, als der chinesische Vermittler, und es war nur dieser Eine (mit
Namen Yan Fu 1853-1921), 14jährig auf der Ingenieurschule der Fu-
Tilemann Grimm
sich chinesische Denkkonstanten? Der Vorgang ist insofern den her-
kömmlichen Erfahrungen der Geschichte adäquat, als er aus einer Ket-
te von Zufällen besteht, die dann freilich, nachdem eine kritische Men-
ge des Rezipierten erreicht ist, zu bestimmten Gravitationspunkten
gleichsam hindriften. So beginnt die Rezipierung mit der erst verhält-
nismäßig spät erwachenden Frage nach den Hintergründen der Tech-
nik, die man als Schiffsbau- und Waffentechnik zuerst kennen gelernt
hatte. Die Erkenntnisse, die man daraus gewann, vermittelten den Ein-
druck eines kruden Materialismus, den man zu praktischen Zwecken
gerne übernehmen mochte, ohne sich in der eigenen Weltanschauung
dadurch auch nur im geringsten beirren zu lassen - die Vorstellung von
der spirituellen Kultur des Ostens gegenüber der materiellen Kultur des
Westens hat sich lange Zeit davon bestätigen lassen können. Nebenher
entwickelte sich aber auch ein Strang neuen Denkens, der sich von der
christlichen, wesentlich protestantischen und als solcher angelsächsi-
schen Chinamission herleiten läßt. In dem Maße, wie diese modernisti-
sche Züge aufnahm, verbanden sich mit der Mission auch Wissen-
schaftsvermittlungen, welche nun doch erste Modernisierungsimpulse
auslösten, die mehr waren als nur Techniktransfer, also etwa moderne,
das heißt dann immer auch umgangssprachliche, Zeitungen und Zeit-
schriften als Vorboten einer öffentlichen Meinung, oder die Lösung von
der Begriffsschrift und Übernahme der lateinischen Lautschrift über die
Bibelübersetzungen, die damit zugleich über den Dialekt einen neuen
lokalen Manifestationspunkt bildeten, für die etablierte Herrschafts-
struktur höchst unangenehm - oder auch das Kennenlernen neuer For-
men der politischen Machtausübung, Selbstverwaltung, repräsentative
Körperschaften, Mitbestimmung u. ä. Dies spielte sich noch im 19. Jh.
ab und kam zur Wirkung erst zu Beginn des 20., wenn man von der
dunklen Faszination absieht, die der vermeintlich christliche Taiping-
Staat (1853—1864) zeitweilig ausübte. Die zwei Jahrhunderte vorausge-
gangene „missio per scientias“ der Jesuiten blieb ohne längerfristige
Auswirkungen, verständlich nur, wenn man außer den Folgen des Ri-
tenstreits zugleich berücksichtigt, daß das technische Wissen im 19. Jh.
jene astronomischen, geometrischen, kartographischen und waffentech-
nischen Kenntnisse des 17. und frühen 18. Jh. einigermaßen überholt
hatte.
Westliche Philosophie trat zuerst auf in Gestalt der, wiederum, angel-
sächsischen Utilitaristen und Positivisten. Das unterlag insofern einem
Zufall, als der chinesische Vermittler, und es war nur dieser Eine (mit
Namen Yan Fu 1853-1921), 14jährig auf der Ingenieurschule der Fu-