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Ernst Schulin
sehen Bereich geschah. Schwäche des Staates und kastenmäßige Zer-
klüftung der Gesellschaft durch das Lehnswesen haben trotz aller Ver-
zögerungserscheinungen zu starken „Partialkulturen“ der Ritter, Geist-
lichen und Bürger geführt (321), wovon, wie Burckhardt meinte, viel-
leicht noch „unsere Zeit“ zehrt (322).
Den Beginn der Neuzeit, die Zeit von Renaissance und Reforma-
tion, also die Zeit von Burckhardts zweitem, berühmteren historischen
Werk, charakterisiert er nicht als Umschlag oder Krise, die dem 4./5.
Jahrhundert vergleichbar wären. Der Staat als allmählich wieder herr-
schende Potenz, der moderne zentralisierte Gewaltstaat, taucht mit
dem unteritalienischen Reich Kaiser Friedrichs II. auf (299), wird dann
von den italienischen Stadtstaaten und allmählich auch vom übrigen
Europa nachgeahmt und findet seine früheste Vollendung bei Ludwig
XIV. und den ihm folgenden absolutistischen Staaten „mit höchster
und stark geübter Zwangsmacht fast über alle Zweige der Kultur“
(300). Die Kirche gab ihren anfänglichen Widerstand gegen diese
Staatsentwicklung auf und akkordierte sich damit, besonders seit der
Reformation, teils um die Staaten beim Katholizismus zu halten, teils
in Form protestantischer Staatskirchen. Die Kultur drängte ähnlich wie
der Staat seit der Renaissance auf Selbständigkeit, also auf politische,
intellektuelle, künstlerische und wirtschaftliche Freiheit, und ver-
mochte in den italienischen Kleinstaaten und später besonders in den
erwerbsbegünstigenden calvinistischen Staaten einiges davon zu ver-
wirklichen. Die Zwangsmacht des kirchlich gestützten Absolutismus
war demgegenüber „eigentlich schon eine gewaltsame Restauration
gegen den wahren Geist der Zeiten“ (300), und hier erfolgt nun
Umschlag und Krise. Es ist die Kultur, die nun zur Herrschaft ansetzt.
Der Kulturhistoriker und Kulturliebhaber Burckhardt scheut sich
nicht, das so zu deuten, obwohl er damit dieser ihm eigentlich sympa-
thischsten Potenz die Verantwortung für die Gefahren seiner eigenen
Zeit aufbürdet: Denn diese Machtsteigerung der Kultur fuhrt ja nicht
zu einer kulturellen und gesellschaftlichen Idealzeit, jedenfalls nicht im
Burckhardtschen Sinne. Nach seiner Deutung war die Potenz Kultur in
der gegenreformatorischen Zeit als Kunst, Lebensgestaltung und Bil-
dung geknechtet oder abgewiesen worden, legte sich darum auf „heim-
liche Meuterei“ und triumphierte dann in der Aufklärungsliteratur des
18. Jahrhunderts über die Religion, indem sie den Katholizismus
negierte und den Protestantismus rationalistisch auflöste (338).
Ähnlich, wenn auch nicht so entschieden, opponierte sie gegen den
absolutistischen Staat und verursachte damit die große moderne Krise:
Ernst Schulin
sehen Bereich geschah. Schwäche des Staates und kastenmäßige Zer-
klüftung der Gesellschaft durch das Lehnswesen haben trotz aller Ver-
zögerungserscheinungen zu starken „Partialkulturen“ der Ritter, Geist-
lichen und Bürger geführt (321), wovon, wie Burckhardt meinte, viel-
leicht noch „unsere Zeit“ zehrt (322).
Den Beginn der Neuzeit, die Zeit von Renaissance und Reforma-
tion, also die Zeit von Burckhardts zweitem, berühmteren historischen
Werk, charakterisiert er nicht als Umschlag oder Krise, die dem 4./5.
Jahrhundert vergleichbar wären. Der Staat als allmählich wieder herr-
schende Potenz, der moderne zentralisierte Gewaltstaat, taucht mit
dem unteritalienischen Reich Kaiser Friedrichs II. auf (299), wird dann
von den italienischen Stadtstaaten und allmählich auch vom übrigen
Europa nachgeahmt und findet seine früheste Vollendung bei Ludwig
XIV. und den ihm folgenden absolutistischen Staaten „mit höchster
und stark geübter Zwangsmacht fast über alle Zweige der Kultur“
(300). Die Kirche gab ihren anfänglichen Widerstand gegen diese
Staatsentwicklung auf und akkordierte sich damit, besonders seit der
Reformation, teils um die Staaten beim Katholizismus zu halten, teils
in Form protestantischer Staatskirchen. Die Kultur drängte ähnlich wie
der Staat seit der Renaissance auf Selbständigkeit, also auf politische,
intellektuelle, künstlerische und wirtschaftliche Freiheit, und ver-
mochte in den italienischen Kleinstaaten und später besonders in den
erwerbsbegünstigenden calvinistischen Staaten einiges davon zu ver-
wirklichen. Die Zwangsmacht des kirchlich gestützten Absolutismus
war demgegenüber „eigentlich schon eine gewaltsame Restauration
gegen den wahren Geist der Zeiten“ (300), und hier erfolgt nun
Umschlag und Krise. Es ist die Kultur, die nun zur Herrschaft ansetzt.
Der Kulturhistoriker und Kulturliebhaber Burckhardt scheut sich
nicht, das so zu deuten, obwohl er damit dieser ihm eigentlich sympa-
thischsten Potenz die Verantwortung für die Gefahren seiner eigenen
Zeit aufbürdet: Denn diese Machtsteigerung der Kultur fuhrt ja nicht
zu einer kulturellen und gesellschaftlichen Idealzeit, jedenfalls nicht im
Burckhardtschen Sinne. Nach seiner Deutung war die Potenz Kultur in
der gegenreformatorischen Zeit als Kunst, Lebensgestaltung und Bil-
dung geknechtet oder abgewiesen worden, legte sich darum auf „heim-
liche Meuterei“ und triumphierte dann in der Aufklärungsliteratur des
18. Jahrhunderts über die Religion, indem sie den Katholizismus
negierte und den Protestantismus rationalistisch auflöste (338).
Ähnlich, wenn auch nicht so entschieden, opponierte sie gegen den
absolutistischen Staat und verursachte damit die große moderne Krise: