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Albrecht Dihle
werden und die Beschreibung von Leben und Werk solcher Einzelner den Ablauf
der geschichtlichen Ereignisse nicht nur widerspiegelt, sondern auch erklärt.
Unmittelbar einleuchtend erscheint dieses Prinzip, wenn es auf den Fall des römi-
schen Kaisers angewendet wird, bei dem sich alle staatliche Macht konzentriert.
Daß die res gestae populi Romani nur noch als res gestae Caesaris verstanden wer-
den konnten, war schon Tacitus deutlich, und aus dieser Einsicht ergab sich die
Umformung der alten Zeitgeschichtsschreibung in Kaisergeschichtsschreibung.
Auf mehrfache Weise dehnte jedoch das biographische Element innerhalb der
Historiographie seine Wirkung aus. Auch andere Akteure in den geschichtlichen
Vorgängen verlangten nach biographischer Würdigung, und in der „Origenes-Bio-
graphie“ des Eusebios wird zum ersten Mal deutlich gemacht, wie sich im Wirken
und Leiden eines einzelnen großen Theologen das Leben der ganzen Kirche spie-
gelt, wenngleich er auf ihre äußeren Geschicke nur geringen Einfluß ausüben
konnte.
Lange Zeit hindurch war biographische Information über Personen des politi-
schen und des Geisteslebens im wesentlichen nur außerhalb der Historiographie
überliefert worden, sei es als wenig geformte Darbietung der Ergebnisse gelehrten
Sammelfleißes oder als literarisch, wenn auch ohne die spezifischen Kunstmittel
der Geschichtsschreibung ausgestaltete Beschreibung eines Lebenslaufes als sitt-
liches Phänomen. Beide Formen erhielten mit der biographischen Orientierung der
Historiographie eine neue, historiographische Funktion. Ähnliches gilt auch für
Kleinformen, in denen sich biographisches Interesse ausdrückte, etwa die Anek-
dote und das Apophthegma. Sie hatten schon vorher gelegentlich den Weg in die
Geschichtsschreibung gefunden und waren seit langem in den oben erwähnten bio-
graphischen „Großformen“ zu Haus. Nunmehr erhielten auch sie volles Bürger-
recht in der Geschichtsschreibung, und man konnte es Ammian zum Vorwurf
machen, wenn er nicht berichtete, „was der Kaiser an der Tafel gesagt hatte“.
Prokop wollte die als Lebensbeschreibung des Kaiserpaares bezeichnete Geheim-
geschichte ausdrücklich als Ergänzung seines Werkes über die Kriege und als
umfassende Darstellung der inneren Verhältnisse des Reiches verstanden wissen -
und sie ist voll von Anekdotischem.
Seit dem 2. Jh. n. C. läßt sich die Tendenz beobachten, Geschichte mehr und
mehr als Kaisergeschichte zu schreiben und infolgedessen die Herrscherbiographie
als Form oder integrierenden Bestandteil der Geschichtsschreibung zu verstehen.
Dem entspricht, daß die von der Historiographie ursprünglich scharf getrennten
Formen der zum Zweck moralischer Belehrung literarisch stilisierten Biographie
und der als Übermittlung gelehrten Materials oder Bildungswissens ohne litera-
rische Ansprüche zusammengestellten Lebensbeschreibung nunmehr gleich-
berechtigt neben die hergebrachten Formen literarischer Historiographie treten
konnten. Diese Tendenz läßt sich auf lateinischer wie griechischer Seite beobach-
ten, doch scheint dem Westen darin eine gewisse Priorität zuzukommen: Die Bio-
Albrecht Dihle
werden und die Beschreibung von Leben und Werk solcher Einzelner den Ablauf
der geschichtlichen Ereignisse nicht nur widerspiegelt, sondern auch erklärt.
Unmittelbar einleuchtend erscheint dieses Prinzip, wenn es auf den Fall des römi-
schen Kaisers angewendet wird, bei dem sich alle staatliche Macht konzentriert.
Daß die res gestae populi Romani nur noch als res gestae Caesaris verstanden wer-
den konnten, war schon Tacitus deutlich, und aus dieser Einsicht ergab sich die
Umformung der alten Zeitgeschichtsschreibung in Kaisergeschichtsschreibung.
Auf mehrfache Weise dehnte jedoch das biographische Element innerhalb der
Historiographie seine Wirkung aus. Auch andere Akteure in den geschichtlichen
Vorgängen verlangten nach biographischer Würdigung, und in der „Origenes-Bio-
graphie“ des Eusebios wird zum ersten Mal deutlich gemacht, wie sich im Wirken
und Leiden eines einzelnen großen Theologen das Leben der ganzen Kirche spie-
gelt, wenngleich er auf ihre äußeren Geschicke nur geringen Einfluß ausüben
konnte.
Lange Zeit hindurch war biographische Information über Personen des politi-
schen und des Geisteslebens im wesentlichen nur außerhalb der Historiographie
überliefert worden, sei es als wenig geformte Darbietung der Ergebnisse gelehrten
Sammelfleißes oder als literarisch, wenn auch ohne die spezifischen Kunstmittel
der Geschichtsschreibung ausgestaltete Beschreibung eines Lebenslaufes als sitt-
liches Phänomen. Beide Formen erhielten mit der biographischen Orientierung der
Historiographie eine neue, historiographische Funktion. Ähnliches gilt auch für
Kleinformen, in denen sich biographisches Interesse ausdrückte, etwa die Anek-
dote und das Apophthegma. Sie hatten schon vorher gelegentlich den Weg in die
Geschichtsschreibung gefunden und waren seit langem in den oben erwähnten bio-
graphischen „Großformen“ zu Haus. Nunmehr erhielten auch sie volles Bürger-
recht in der Geschichtsschreibung, und man konnte es Ammian zum Vorwurf
machen, wenn er nicht berichtete, „was der Kaiser an der Tafel gesagt hatte“.
Prokop wollte die als Lebensbeschreibung des Kaiserpaares bezeichnete Geheim-
geschichte ausdrücklich als Ergänzung seines Werkes über die Kriege und als
umfassende Darstellung der inneren Verhältnisse des Reiches verstanden wissen -
und sie ist voll von Anekdotischem.
Seit dem 2. Jh. n. C. läßt sich die Tendenz beobachten, Geschichte mehr und
mehr als Kaisergeschichte zu schreiben und infolgedessen die Herrscherbiographie
als Form oder integrierenden Bestandteil der Geschichtsschreibung zu verstehen.
Dem entspricht, daß die von der Historiographie ursprünglich scharf getrennten
Formen der zum Zweck moralischer Belehrung literarisch stilisierten Biographie
und der als Übermittlung gelehrten Materials oder Bildungswissens ohne litera-
rische Ansprüche zusammengestellten Lebensbeschreibung nunmehr gleich-
berechtigt neben die hergebrachten Formen literarischer Historiographie treten
konnten. Diese Tendenz läßt sich auf lateinischer wie griechischer Seite beobach-
ten, doch scheint dem Westen darin eine gewisse Priorität zuzukommen: Die Bio-