Symmetrie im Spiegel der Antike
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Ich wende mich von diesem archäologischen Exkurs, zu dem mir
der längst verstorbene Freund Arnold v. Salis mit seinem schönen
Buch Anregung geboten hat55, wieder zurück zu meinem philolo-
gischen Metier. Dabei lade ich ein zu einem nüchternen Blick auf die
Bauform des griechischen Chorlieds im attischen Drama, zunächst
scheinbar ein Produkt des Raumes, wie es sich uns Nachgeborenen im
Buch darstellt. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, daß es sich
primär um einen Tanz mit Gesangsbegleitung handelt, der sich dem
Auge des Beschauers als Bewegung in der Zeit dargeboten hat, erst
sekundär durch die Schrift in die Buchrolle und heute zwischen zwei
Buchdeckel gebannt ist.
Das attische Tanzlied des Chors bestand in der Regel aus zwei
streng symmetrisch gebauten Abläufen, in denen sich die Abfolge von
langen und kurzen Silben aufs peinlichste entsprechen, was dem Dich-
ter ein hohes Maß an Formkunst abverlangt, das weit über den Zwang
des Endreims hinausgeht, der bei uns lange Zeit in der Poesie vor-
geherrscht hat. Hier stoßen wir auch einmal wieder, wie es selten
genug der Fall ist (bisher haben wir, wie wir uns erinnern, vor allem die
eürhythma phylla des Theophrast registriert)56, hier also treffen wir
doch wieder auf eine antike Terminologie für Symmetrie in unserem
Sinn. Denn die beiden aufeinander folgenden, einander haarscharf
entsprechenden Tanzrhythmen oder Chorlieder heißen griechisch
strophe und antistrophe, ‘Tanzbewegung und antwortende Bewegung’,
wie wir frei übersetzen könnten57. Wir benützen in unserem wissen-
55 Natürlich wäre eine ganze Anzahl weiterer Arbeiten zu nennen, die das gleiche
Thema mehr oder weniger kursorisch behandeln. Ich zähle hier einiges auf, z. TI.
mir freundlich nachgewiesen von Peter Hommel:
C. E. L. von Lorck, Grundstrukturen. Strukturanalyse des Kunstwerks 1965 (bes.
S. 19 ff. 40ff.)
S. Ferri, Artikel ‘Symmetria’ in: Enciclopedia dell’Arte Antica VII 1966, S. 575f.
J. Engemann, Architekturdarstellungen des frühen zweiten Stils ... und ihre Vor-
bilder in der realen Architektur 1967, S. 62-95.
E. Pernice u. W. Gross, Die literarischen Zeugnisse. In: Handbuch der Archäo-
logie 121969, S. 395-496. (S. 410 Vitruv, De architectura, Buch III, das u. a. über die
Proportionen handelt)
B. Schweitzer u. U. Hausmann, Das Problem der Form in der Kunst des Alter-
tums. Ebenda S. 163-203 (u. a. allgemeine Ausführungen zur Proportionierung in
der antiken Kunst; über symmetria und rhythmos etc.).
E. H. Gombrich, The Sense of Order. A Study in the Psychology of Decorative Art
1979 (T984).
56 Vgl. ferner oben die Anm. 48 (symphoneiri).
57 Genau so wenig wie eiirhythmos und eurhythmia sind jedoch antistrophos und anti-
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Ich wende mich von diesem archäologischen Exkurs, zu dem mir
der längst verstorbene Freund Arnold v. Salis mit seinem schönen
Buch Anregung geboten hat55, wieder zurück zu meinem philolo-
gischen Metier. Dabei lade ich ein zu einem nüchternen Blick auf die
Bauform des griechischen Chorlieds im attischen Drama, zunächst
scheinbar ein Produkt des Raumes, wie es sich uns Nachgeborenen im
Buch darstellt. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, daß es sich
primär um einen Tanz mit Gesangsbegleitung handelt, der sich dem
Auge des Beschauers als Bewegung in der Zeit dargeboten hat, erst
sekundär durch die Schrift in die Buchrolle und heute zwischen zwei
Buchdeckel gebannt ist.
Das attische Tanzlied des Chors bestand in der Regel aus zwei
streng symmetrisch gebauten Abläufen, in denen sich die Abfolge von
langen und kurzen Silben aufs peinlichste entsprechen, was dem Dich-
ter ein hohes Maß an Formkunst abverlangt, das weit über den Zwang
des Endreims hinausgeht, der bei uns lange Zeit in der Poesie vor-
geherrscht hat. Hier stoßen wir auch einmal wieder, wie es selten
genug der Fall ist (bisher haben wir, wie wir uns erinnern, vor allem die
eürhythma phylla des Theophrast registriert)56, hier also treffen wir
doch wieder auf eine antike Terminologie für Symmetrie in unserem
Sinn. Denn die beiden aufeinander folgenden, einander haarscharf
entsprechenden Tanzrhythmen oder Chorlieder heißen griechisch
strophe und antistrophe, ‘Tanzbewegung und antwortende Bewegung’,
wie wir frei übersetzen könnten57. Wir benützen in unserem wissen-
55 Natürlich wäre eine ganze Anzahl weiterer Arbeiten zu nennen, die das gleiche
Thema mehr oder weniger kursorisch behandeln. Ich zähle hier einiges auf, z. TI.
mir freundlich nachgewiesen von Peter Hommel:
C. E. L. von Lorck, Grundstrukturen. Strukturanalyse des Kunstwerks 1965 (bes.
S. 19 ff. 40ff.)
S. Ferri, Artikel ‘Symmetria’ in: Enciclopedia dell’Arte Antica VII 1966, S. 575f.
J. Engemann, Architekturdarstellungen des frühen zweiten Stils ... und ihre Vor-
bilder in der realen Architektur 1967, S. 62-95.
E. Pernice u. W. Gross, Die literarischen Zeugnisse. In: Handbuch der Archäo-
logie 121969, S. 395-496. (S. 410 Vitruv, De architectura, Buch III, das u. a. über die
Proportionen handelt)
B. Schweitzer u. U. Hausmann, Das Problem der Form in der Kunst des Alter-
tums. Ebenda S. 163-203 (u. a. allgemeine Ausführungen zur Proportionierung in
der antiken Kunst; über symmetria und rhythmos etc.).
E. H. Gombrich, The Sense of Order. A Study in the Psychology of Decorative Art
1979 (T984).
56 Vgl. ferner oben die Anm. 48 (symphoneiri).
57 Genau so wenig wie eiirhythmos und eurhythmia sind jedoch antistrophos und anti-