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Hildebrecht Hommel
Man kann für jene kleinen Korrekturen einer sonst makellosen
Symmetrie vermutungsweise ein quasireligiöses Motiv annehmen.
Der Grieche hat - wie es z.B. Schiller in seiner Ballade vom Ring des
Polykrates kurz formuliert hat: ‘mir grauet vor der Götter Neide’ - er
hat Angst davor, er könne durch allzu große Annäherung an eine der
Gottheit vorbehaltene Vollkommenheit deren Neid hervorrufen,
anders ausgedrückt, er hat Furcht vor den Folgen der eigenen Hybris,
eines den Göttern verdächtigen und verhaßten menschlichen Über-
muts. Also greift er rechtzeitig zur Selbsthilfe und hängt so etwa den
vollkommenen Produkten seiner Kunst absichtlich einen Fehler an,
der das Eingeständnis seiner menschlichen Schwäche, seiner Distanz
zur göttlichen Vollkommenheit demonstrieren soll, in unserem Fall
seine fromme Scheu vor vollendeter Symmetrie58. Mein verstorbener
Freund, der bayrische Architekt Eberhard Braun, hat zeitlebens Bei-
spiele, vorwiegend aus dem frühen Mittelalter, dafür gesammelt, daß
Baumeister und Künstler bei Verwendung von aus einem Stück beste-
henden Säulen jeweils eine davon absichtlich in zwei Teile schnitten,
um ein Dokument des Eingeständnisses menschlicher Unvollkom-
menheit zu liefern59. Eine Karikatur dieser Tendenz ist es, so will mir
scheinen, eine Karikatur, die also gewiß nicht auf religiöse Impulse
zurückgeht, aber doch eine Scheu, ja geradezu einen Horror vor glatter
Perfektion verrät, wenn heute weithin überhaupt nur noch dem Unre-
gelmäßigen künstlerischer Rang zugebilligt wird. Schon vor mehr als
einem Menschenalter hat der schon genannte Wiener Kunsthistoriker
Dagobert Frey in jenem Symmetrie-Heft der Zeitschrift ‘Studium
Generale’ in einem auch sonst äußerst wichtigen Aufsatz über „Das
58 Br. v. Freytag weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß die Knüpfer ana-
tolischer Teppiche noch heute absichtlich kleine Fehler anbringen. Ähnliches
stellt Hellmut Brunner (ebenfalls mündlich) bereits an altägyptischen Symmetrie-
gebilden fest; s. dazu jetzt auch oben die Anm. 57a). Auf das anatolische Beispiel
weist auch kurz hin H. Götze aO. (Anm. 9) a) 16, vgl. 44f. b) 73, vgl. 98f.
59 Eb. Braun, Eine Neuentdeckung an Denkmälern der romanischen und vorroma-
nischen Baukunst. Gebrochene Säulen. In: Das Münster. Zeitschr. f. christl. Kunst
u. Kunstwissensch. 7.1954, S. 217-220. Braun bietet zu der Erklärung des Phäno-
mens als Zeichen christlicher Demut noch die Variante an, „daß die betr. Baumei-
ster bezw. Steinmetzen mit der gebrochenen Säule die bösen Geister versöhnen
wollten, damit sie ihnen nicht das ganze Bauwerk zerstörten“. Er deutet im glei-
chen Sinn auch die orientalische Sitte (s. die vorige Anm.), in die Muster der Tep-
piche absichtlich einen Fehler hineinzuweben, als Abwehrzauber gegen den
‘bösen Blick’. Eher würde ich, wenn solche abergläubischen Motive hineinspielen
sollten, die gebrochene Säule als eine Art Stolperstein für böse Geister ansehen.
Hildebrecht Hommel
Man kann für jene kleinen Korrekturen einer sonst makellosen
Symmetrie vermutungsweise ein quasireligiöses Motiv annehmen.
Der Grieche hat - wie es z.B. Schiller in seiner Ballade vom Ring des
Polykrates kurz formuliert hat: ‘mir grauet vor der Götter Neide’ - er
hat Angst davor, er könne durch allzu große Annäherung an eine der
Gottheit vorbehaltene Vollkommenheit deren Neid hervorrufen,
anders ausgedrückt, er hat Furcht vor den Folgen der eigenen Hybris,
eines den Göttern verdächtigen und verhaßten menschlichen Über-
muts. Also greift er rechtzeitig zur Selbsthilfe und hängt so etwa den
vollkommenen Produkten seiner Kunst absichtlich einen Fehler an,
der das Eingeständnis seiner menschlichen Schwäche, seiner Distanz
zur göttlichen Vollkommenheit demonstrieren soll, in unserem Fall
seine fromme Scheu vor vollendeter Symmetrie58. Mein verstorbener
Freund, der bayrische Architekt Eberhard Braun, hat zeitlebens Bei-
spiele, vorwiegend aus dem frühen Mittelalter, dafür gesammelt, daß
Baumeister und Künstler bei Verwendung von aus einem Stück beste-
henden Säulen jeweils eine davon absichtlich in zwei Teile schnitten,
um ein Dokument des Eingeständnisses menschlicher Unvollkom-
menheit zu liefern59. Eine Karikatur dieser Tendenz ist es, so will mir
scheinen, eine Karikatur, die also gewiß nicht auf religiöse Impulse
zurückgeht, aber doch eine Scheu, ja geradezu einen Horror vor glatter
Perfektion verrät, wenn heute weithin überhaupt nur noch dem Unre-
gelmäßigen künstlerischer Rang zugebilligt wird. Schon vor mehr als
einem Menschenalter hat der schon genannte Wiener Kunsthistoriker
Dagobert Frey in jenem Symmetrie-Heft der Zeitschrift ‘Studium
Generale’ in einem auch sonst äußerst wichtigen Aufsatz über „Das
58 Br. v. Freytag weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß die Knüpfer ana-
tolischer Teppiche noch heute absichtlich kleine Fehler anbringen. Ähnliches
stellt Hellmut Brunner (ebenfalls mündlich) bereits an altägyptischen Symmetrie-
gebilden fest; s. dazu jetzt auch oben die Anm. 57a). Auf das anatolische Beispiel
weist auch kurz hin H. Götze aO. (Anm. 9) a) 16, vgl. 44f. b) 73, vgl. 98f.
59 Eb. Braun, Eine Neuentdeckung an Denkmälern der romanischen und vorroma-
nischen Baukunst. Gebrochene Säulen. In: Das Münster. Zeitschr. f. christl. Kunst
u. Kunstwissensch. 7.1954, S. 217-220. Braun bietet zu der Erklärung des Phäno-
mens als Zeichen christlicher Demut noch die Variante an, „daß die betr. Baumei-
ster bezw. Steinmetzen mit der gebrochenen Säule die bösen Geister versöhnen
wollten, damit sie ihnen nicht das ganze Bauwerk zerstörten“. Er deutet im glei-
chen Sinn auch die orientalische Sitte (s. die vorige Anm.), in die Muster der Tep-
piche absichtlich einen Fehler hineinzuweben, als Abwehrzauber gegen den
‘bösen Blick’. Eher würde ich, wenn solche abergläubischen Motive hineinspielen
sollten, die gebrochene Säule als eine Art Stolperstein für böse Geister ansehen.