44
Joseph Georg Wolf
2. Welche Folgerungen haben wir für die Cassiusrede zu ziehen? Wir
dürfen annehmen, daß Cassius wirklich im Senat gesprochen und
gegen die Begnadigung der Sklaven gestimmt hat. Andererseits müs-
sen wir aber davon ausgehen, daß die Cassiusrede bei Tacitus besten-
falls eine freie Bearbeitung des Originals ist.* * * * * * 176
Wir sahen, daß die Rede Satz für Satz den rhetorischen Regeln folgt;
sie ist auf dem Reißbrett konstruiert. Die Argumentation ist zielstrebig
und dicht; es gibt keinen Verweilpunkt; ein Argument folgt dem ande-
ren. Jeder Gedanke hat seinen Platz; kein Wort ist zufällig; das Ganze
ein geschlossenes Gefüge.177 Die Rede wirkt äußerst versiert. Aber sie
(Forts. Fußnote 175)
umbildete“. Die Originalrede war aber sicher nicht nur in den acta senatus greifbar.
Nach Koestermann zu 11.24.7 kann dagegen „nicht zweifelhaft sein“, daß Tacitus
„den authentischen Text des Claudius vor Augen gehabt hat“. Dann aber zeigt seine
Claudiusrede auch, daß er „would never have wished to reproduce even extracts
verbatim in his Annals“: Talbert 315.
176 So etwa urteilt schon Norden (A. 76) I 330 A. 1. Das bedeutet freilich nicht, daß
uns die Rede auch nur „eine ungefähre Vorstellung“ gäbe, „wie Tacitus geredet
haben mag“: sie zeigt uns, wie Tacitus in seinen Annalen, für sein Lesepublikum, C.
Cassius Longinus im Senat gegen die Begnadigung sprechen läßt. - Die Rede halten
für eine Bearbeitung auch R. Ullmann, La technique des discours dans Salluste,
Tite Live et Tacite (Oslo 1927) 239 f.; Syme I 330; Koestermann zu 14.43.1; Nörr
(1983) 215.
177 Nach Nörr (1983), insb. 203ff., sind Argumentation und Stil der Rede dagegen
„brüchig“, ist „die Brüchigkeit von Stil und Argumentation“ für die Rede geradezu
charakteristisch. Darüberhinaus „indizieren“ die Argumentations- und Stilbrüche
für Nörr „Zweideutigkeiten in Wertmaßstäben und Verhaltensnormen“ (209; vgl.
auch o. A. 66, 69, 86, 119, 242). Dabei nimmt er an, daß „wir keineswegs die
Originalrede oder auch nur eine sich eng an die Originalrede anschließende Bear-
beitung vor uns haben“. Tacitus soll die Rede „der Situation und der Person, wie er
sie schildern will“ (215), angepaßt, offenbar aber die Argumentations- und Stilbrü-
che, die Nörr feststellt, aus der Originalrede übernommen haben; denn für Nörr
ist es „zumindest auf den ersten Blick ... schwerlich denkbar, daß sich Tacitus mit
den Argumentations- und Stilbrüchen des Cassius schlicht identifiziert hätte“ (221).
- Der Stil der Rede ist hier nicht systematisch untersucht worden. Indessen ist nicht
zu übersehen, daß die Stilart nach der narratio (43.2), mit dem Beginn der argumen-
tatio (43.3) abrupt wechselt. Zunächst, im exordium (vgl. o. nach A. 48), ist der Stil
vor allem der Person, die spricht, ihrem Alter, ihrem hohen Stand, ihrem großen
Ansehen und ihrer Lebenshaltung angemessen: würdig, fast monumental, ‘alter-
tümlich’; und noch in der narratio ist er getragen. Dann plötzlich wechseln die
Mittel: jetzt ist er pointiert, aggressiv, hämmernd. Diesen Stilwechsel hat zuerst
Koestermann zu 14.43.1 beobachtet, und Nörr (1983) 203f., 208 hat ihn zu Recht
hervorgehoben. Gegen Ende der Rede, mit dem Beginn der indignatio (44.3),
scheint die Stilart noch einmal zu wechseln. Stilwechsel waren rhetorische Mittel
und wurden natürlich bewußt eingesetzt.
Joseph Georg Wolf
2. Welche Folgerungen haben wir für die Cassiusrede zu ziehen? Wir
dürfen annehmen, daß Cassius wirklich im Senat gesprochen und
gegen die Begnadigung der Sklaven gestimmt hat. Andererseits müs-
sen wir aber davon ausgehen, daß die Cassiusrede bei Tacitus besten-
falls eine freie Bearbeitung des Originals ist.* * * * * * 176
Wir sahen, daß die Rede Satz für Satz den rhetorischen Regeln folgt;
sie ist auf dem Reißbrett konstruiert. Die Argumentation ist zielstrebig
und dicht; es gibt keinen Verweilpunkt; ein Argument folgt dem ande-
ren. Jeder Gedanke hat seinen Platz; kein Wort ist zufällig; das Ganze
ein geschlossenes Gefüge.177 Die Rede wirkt äußerst versiert. Aber sie
(Forts. Fußnote 175)
umbildete“. Die Originalrede war aber sicher nicht nur in den acta senatus greifbar.
Nach Koestermann zu 11.24.7 kann dagegen „nicht zweifelhaft sein“, daß Tacitus
„den authentischen Text des Claudius vor Augen gehabt hat“. Dann aber zeigt seine
Claudiusrede auch, daß er „would never have wished to reproduce even extracts
verbatim in his Annals“: Talbert 315.
176 So etwa urteilt schon Norden (A. 76) I 330 A. 1. Das bedeutet freilich nicht, daß
uns die Rede auch nur „eine ungefähre Vorstellung“ gäbe, „wie Tacitus geredet
haben mag“: sie zeigt uns, wie Tacitus in seinen Annalen, für sein Lesepublikum, C.
Cassius Longinus im Senat gegen die Begnadigung sprechen läßt. - Die Rede halten
für eine Bearbeitung auch R. Ullmann, La technique des discours dans Salluste,
Tite Live et Tacite (Oslo 1927) 239 f.; Syme I 330; Koestermann zu 14.43.1; Nörr
(1983) 215.
177 Nach Nörr (1983), insb. 203ff., sind Argumentation und Stil der Rede dagegen
„brüchig“, ist „die Brüchigkeit von Stil und Argumentation“ für die Rede geradezu
charakteristisch. Darüberhinaus „indizieren“ die Argumentations- und Stilbrüche
für Nörr „Zweideutigkeiten in Wertmaßstäben und Verhaltensnormen“ (209; vgl.
auch o. A. 66, 69, 86, 119, 242). Dabei nimmt er an, daß „wir keineswegs die
Originalrede oder auch nur eine sich eng an die Originalrede anschließende Bear-
beitung vor uns haben“. Tacitus soll die Rede „der Situation und der Person, wie er
sie schildern will“ (215), angepaßt, offenbar aber die Argumentations- und Stilbrü-
che, die Nörr feststellt, aus der Originalrede übernommen haben; denn für Nörr
ist es „zumindest auf den ersten Blick ... schwerlich denkbar, daß sich Tacitus mit
den Argumentations- und Stilbrüchen des Cassius schlicht identifiziert hätte“ (221).
- Der Stil der Rede ist hier nicht systematisch untersucht worden. Indessen ist nicht
zu übersehen, daß die Stilart nach der narratio (43.2), mit dem Beginn der argumen-
tatio (43.3) abrupt wechselt. Zunächst, im exordium (vgl. o. nach A. 48), ist der Stil
vor allem der Person, die spricht, ihrem Alter, ihrem hohen Stand, ihrem großen
Ansehen und ihrer Lebenshaltung angemessen: würdig, fast monumental, ‘alter-
tümlich’; und noch in der narratio ist er getragen. Dann plötzlich wechseln die
Mittel: jetzt ist er pointiert, aggressiv, hämmernd. Diesen Stilwechsel hat zuerst
Koestermann zu 14.43.1 beobachtet, und Nörr (1983) 203f., 208 hat ihn zu Recht
hervorgehoben. Gegen Ende der Rede, mit dem Beginn der indignatio (44.3),
scheint die Stilart noch einmal zu wechseln. Stilwechsel waren rhetorische Mittel
und wurden natürlich bewußt eingesetzt.