Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende
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heiligen Glanz sonnte sich auch das Herrscherhaus, das die Reform
durchgesetzt hatte und dem nun die schönsten Codices der Reichenau
huldigten. Für den Einklang solcher religiösen, ästhetischen, politi-
schen Ziele bauten, sangen, malten und schrieben die Mönche.
Fünfzig Jahre danach, um 1020, erstarrten die Buchstabenformen,
und wieder begleitete die Wendung einen grundsätzlichen Wandel der
Klosterreform, die Forderung nach rationaler Durchleuchtung des
Sichtbaren, die Suche nach den unsichtbaren Prinzipien aller Erschei-
nungsformen. Auch diese Bestrebungen standen im Dienst Gottes,
denn er hatte die Schöpfung vernünftig nach Maß und Zahl geordnet
und wies damit den Geschöpfen die Richtung eines sinnvollen Daseins.
Mit der Kirchenpolitik des Herrscherhauses war die kritische Stufe der
Klosterreform jedoch nicht mehr ohne Konflikte vereinbar; die
Reichenauer wußten seit 1006 ein Lied davon zu singen. Ebenso
schrumpften ihre ästhetischen Ansprüche, während die intellektuellen
wuchsen. Unser Fragment steht inhaltlich bei den Anfängen der
zweiten, formal bei den Ausläufern der ersten Stufe. Zu den Kalligra-
phen der Abtei zählte der Schreiber nicht mehr; doch richtete er sein
nüchternes Geschäft noch nach den Kennzeichen ihrer Buchkunst, wie
der jüngste Schreiber des Donaueschinger Codex 191, dessen Hand der
seinen ähnlich sieht und in dieselbe Zeit und Region gehört.62
Stellen wir die Frage zurück, ob zwischen den Stufen der europäi-
schen Astrolab-Rezeption und denen der ottonisch-salischen Kloster-
reform ebenfalls eine tiefere Verbindung besteht. Halten wir fest, was
fürs erste gesichert ist: Um die Jahrtausendwende oder kurz danach
schrieb man im Kloster Reichenau oder nahe dabei einen lateinischen
Text zur arabischen Sternkunde, im engen Anschluß an die älteste
Astrolab-Tradition aus Spanien, aber schon über sie hinausgreifend,
mehrere Jahrzehnte, bevor lothringische Schulen solche Schriften
verbreiteten und Hermann der Lahme sie auf der Reichenau erneut
zusammenfaßte.
Der Fund des Konstanzer Fragments erschüttert mithin die herr-
schende Meinung über die lateinische Frühgeschichte des Astrolabs.
62 Hoffmann, Buchkunst Bd. 1 S. 303-355; Bd. 2 Tafeln 137-168. Zum Donau-
eschinger Codex 191 ebd. Bd. 1 S. 317 f.; Abbildungen bei Holder, Handschrif-
ten Bd. 3/1 Tafeln IV-X. Zur Reichenauer Malschule zuletzt Wilhelm Messerer,
Reichenauer Malerei - nach Jantzen, in: Maurer, Reichenau S. 291-309.
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heiligen Glanz sonnte sich auch das Herrscherhaus, das die Reform
durchgesetzt hatte und dem nun die schönsten Codices der Reichenau
huldigten. Für den Einklang solcher religiösen, ästhetischen, politi-
schen Ziele bauten, sangen, malten und schrieben die Mönche.
Fünfzig Jahre danach, um 1020, erstarrten die Buchstabenformen,
und wieder begleitete die Wendung einen grundsätzlichen Wandel der
Klosterreform, die Forderung nach rationaler Durchleuchtung des
Sichtbaren, die Suche nach den unsichtbaren Prinzipien aller Erschei-
nungsformen. Auch diese Bestrebungen standen im Dienst Gottes,
denn er hatte die Schöpfung vernünftig nach Maß und Zahl geordnet
und wies damit den Geschöpfen die Richtung eines sinnvollen Daseins.
Mit der Kirchenpolitik des Herrscherhauses war die kritische Stufe der
Klosterreform jedoch nicht mehr ohne Konflikte vereinbar; die
Reichenauer wußten seit 1006 ein Lied davon zu singen. Ebenso
schrumpften ihre ästhetischen Ansprüche, während die intellektuellen
wuchsen. Unser Fragment steht inhaltlich bei den Anfängen der
zweiten, formal bei den Ausläufern der ersten Stufe. Zu den Kalligra-
phen der Abtei zählte der Schreiber nicht mehr; doch richtete er sein
nüchternes Geschäft noch nach den Kennzeichen ihrer Buchkunst, wie
der jüngste Schreiber des Donaueschinger Codex 191, dessen Hand der
seinen ähnlich sieht und in dieselbe Zeit und Region gehört.62
Stellen wir die Frage zurück, ob zwischen den Stufen der europäi-
schen Astrolab-Rezeption und denen der ottonisch-salischen Kloster-
reform ebenfalls eine tiefere Verbindung besteht. Halten wir fest, was
fürs erste gesichert ist: Um die Jahrtausendwende oder kurz danach
schrieb man im Kloster Reichenau oder nahe dabei einen lateinischen
Text zur arabischen Sternkunde, im engen Anschluß an die älteste
Astrolab-Tradition aus Spanien, aber schon über sie hinausgreifend,
mehrere Jahrzehnte, bevor lothringische Schulen solche Schriften
verbreiteten und Hermann der Lahme sie auf der Reichenau erneut
zusammenfaßte.
Der Fund des Konstanzer Fragments erschüttert mithin die herr-
schende Meinung über die lateinische Frühgeschichte des Astrolabs.
62 Hoffmann, Buchkunst Bd. 1 S. 303-355; Bd. 2 Tafeln 137-168. Zum Donau-
eschinger Codex 191 ebd. Bd. 1 S. 317 f.; Abbildungen bei Holder, Handschrif-
ten Bd. 3/1 Tafeln IV-X. Zur Reichenauer Malschule zuletzt Wilhelm Messerer,
Reichenauer Malerei - nach Jantzen, in: Maurer, Reichenau S. 291-309.