Der Begriff der Würde im antiken Rom
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poematis et in oratione peccatur (or. 70) Es ist das Regulativ in allen
Lebensbereichen und bildet den Kern einer Kultur, die durch humanitas
und urbanitas gekennzeichnet ist. Alles, was das decorum verletzt,
widerspricht der römischen dignitas™, alles, was die Rücksicht auf
den Mitmenschen, auf seine dignitas, vermissen läßt, alles Taktlose,
Geschmacklose, Übertriebene, Gekünstelte, Possenreißerische, Ag-
gressive, alles Niedrige, Hämische, kurz alles, was sich auch mit unse-
rem Begriff der Würde nicht verträgt. Auch das Gestelzte, Steife scha-
det ihr. Sie muß natürlich wirken. Bei Hofmannsthal70 71 findet sich die
Bemerkung: „Was ist das Grundelement der Würde? Naivetät. Das
Imponierende ohne Würde ist leicht beängstigend.“ Dignitas verlangt,
überall das rechte Maß zu wahren. Es ist klar, daß die so verstandene
dignitas über den politischen Bereich, in dem sie vor allem beheimatet
ist, weit hinausreicht. Ja, man kann sagen, daß sich von der ästhetischen
und moralischen Verwendung des Begriffes her die Lösung vom im
engeren Sinne Politischen anbahnt. Eine Voraussetzung hierfür war,
daß die dignitas im politischen Bereich selbst mehr und mehr entwertet
wurde, daß sie einerseits zum bloßen Schlagwort herabsank, anderer-
seits zur technischen Bezeichnung von Amt und Stand verwendet
wurde. Die Entwertung zum Schlagwort bezeugt der kaiserliche Histori-
ker Florus (s.o.S. 21). Cicero unterzieht Caesars Berufung auf seine
dignitas einer scharfen Kritik (ad Att. 7,11,1 vom 14. Januar 49 v. Chr.):
Atque haec ait omnia facere se dignitatis causa. Ubi est autem dignitas nisi
ubi honestas? Honestum igitur habere exercitum nullo publico consilio,
occupare urbis civium, quo facilior sit aditus ad patriam, χρεών αποκο-
πής, φυγάδων καθόδους, sescenta alia scelera moliri? Auch Sallust
beklagt sich über den Mißbrauch des Begriffes: Coepere nobilitas digni-
tatem in dominationem, populus libertatem in lubidinem vertere (lug.
41,5). Das eigentlich Merkwürdige aber ist, daß trotz des Zusammen-
bruchs der römischen Staatsordnung und der mit ihr verbundenen Ent-
wertung der dignitas die Verwandlung des polititschen Begriffes in einen
moralischen und die Loslösung von der Gemeinschaft, die wir bei so
70 Vgl. Terenz (s. S. 38, Anm. 80). Zum decorum Cic. off. 1,93ff: Im decorum offenbaren
sich Mäßigung und Zurückhaltung zusammen mit dem Eindruck einer gewissen Vor-
nehmheit (moderatio et temperantia cum quadam specie liberali, 96); das decorum wird
in allen Taten und Worten sichtbar, auch in Bewegung und Haltung des Körpers (126).
Vgl. Μ. Pohlenz, Τό πρέπον. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes,
Berlin 1933 (Nachrichten von der Gesellschaft der Wiss. zu Göttingen, Phil.-Histor.
Kl., Fachgruppe 1, Nr. 16).
71 Buch der Freunde, 19.
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poematis et in oratione peccatur (or. 70) Es ist das Regulativ in allen
Lebensbereichen und bildet den Kern einer Kultur, die durch humanitas
und urbanitas gekennzeichnet ist. Alles, was das decorum verletzt,
widerspricht der römischen dignitas™, alles, was die Rücksicht auf
den Mitmenschen, auf seine dignitas, vermissen läßt, alles Taktlose,
Geschmacklose, Übertriebene, Gekünstelte, Possenreißerische, Ag-
gressive, alles Niedrige, Hämische, kurz alles, was sich auch mit unse-
rem Begriff der Würde nicht verträgt. Auch das Gestelzte, Steife scha-
det ihr. Sie muß natürlich wirken. Bei Hofmannsthal70 71 findet sich die
Bemerkung: „Was ist das Grundelement der Würde? Naivetät. Das
Imponierende ohne Würde ist leicht beängstigend.“ Dignitas verlangt,
überall das rechte Maß zu wahren. Es ist klar, daß die so verstandene
dignitas über den politischen Bereich, in dem sie vor allem beheimatet
ist, weit hinausreicht. Ja, man kann sagen, daß sich von der ästhetischen
und moralischen Verwendung des Begriffes her die Lösung vom im
engeren Sinne Politischen anbahnt. Eine Voraussetzung hierfür war,
daß die dignitas im politischen Bereich selbst mehr und mehr entwertet
wurde, daß sie einerseits zum bloßen Schlagwort herabsank, anderer-
seits zur technischen Bezeichnung von Amt und Stand verwendet
wurde. Die Entwertung zum Schlagwort bezeugt der kaiserliche Histori-
ker Florus (s.o.S. 21). Cicero unterzieht Caesars Berufung auf seine
dignitas einer scharfen Kritik (ad Att. 7,11,1 vom 14. Januar 49 v. Chr.):
Atque haec ait omnia facere se dignitatis causa. Ubi est autem dignitas nisi
ubi honestas? Honestum igitur habere exercitum nullo publico consilio,
occupare urbis civium, quo facilior sit aditus ad patriam, χρεών αποκο-
πής, φυγάδων καθόδους, sescenta alia scelera moliri? Auch Sallust
beklagt sich über den Mißbrauch des Begriffes: Coepere nobilitas digni-
tatem in dominationem, populus libertatem in lubidinem vertere (lug.
41,5). Das eigentlich Merkwürdige aber ist, daß trotz des Zusammen-
bruchs der römischen Staatsordnung und der mit ihr verbundenen Ent-
wertung der dignitas die Verwandlung des polititschen Begriffes in einen
moralischen und die Loslösung von der Gemeinschaft, die wir bei so
70 Vgl. Terenz (s. S. 38, Anm. 80). Zum decorum Cic. off. 1,93ff: Im decorum offenbaren
sich Mäßigung und Zurückhaltung zusammen mit dem Eindruck einer gewissen Vor-
nehmheit (moderatio et temperantia cum quadam specie liberali, 96); das decorum wird
in allen Taten und Worten sichtbar, auch in Bewegung und Haltung des Körpers (126).
Vgl. Μ. Pohlenz, Τό πρέπον. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes,
Berlin 1933 (Nachrichten von der Gesellschaft der Wiss. zu Göttingen, Phil.-Histor.
Kl., Fachgruppe 1, Nr. 16).
71 Buch der Freunde, 19.