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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0015
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Im Forschungsprogramm des Freiburger Sonderforschungsbereichs
„Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schrift-
lichkeit“, in dem verschiedene Aspekte des Forschungsgegenstandes er-
läutert werden, findet sich unter der Rubrik ,Unterschiedliche Interes-
sen von Produzent und Rezipient4 die Überlegung, daß sowohl beim
Sprechen wie auch beim Schreiben die Interessenlagen der Kommuni-
kationspartner verschieden sind. Vieles spreche für die Hypothese, daß
nicht nur Sprachsysteme, sondern auch Schreibsysteme und Schreibstra-
tegien, vor allem auf die Interessen der Rezipienten ausgerichtet sind. In
den folgenden Überlegungen wird versucht, dies in einem knappen
Überblick über die Entwicklung des griechischen und des lateinischen
Schriftsystems zu verdeutlichen. Parallel zum vorliegenden Sitzungsbe-
richt ist eine Arbeit über Die Semiotik der Textgestalt entstanden, in der
die Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses dargestellt werden, bei
dem sich die zweidimensionale Anordnung des geschriebenen Texts zu
einem zusätzlichen Signifikanten entwickelt. Die dort u. a. beschriebene
Entwicklung etwa der mathematischen Texte zu Ideogrammen auf dem
Rücken einer Alphabetschrift-Kultur ist in abgemilderter Form auch an-
hand von Alphabetschrift-Systemen zu beobachten. - Der Verfasser
dankt den anwesenden Akademie-Mitgliedern für die anregende Dis-
kussion und für einige weiterführende Vorschläge.1
1. Lautes Lesen als Folge der Eigenschaften eines Schreibsystems
In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. hat Dionysios Thrax
seine Kunst der Grammatik geschrieben. Ein heutiger Leser staunt,
wenn er dieses kleine Werk von 15 Druckseiten Umfang in die Hand
nimmt. Es beginnt mit dem merkwürdigen Satz: „Die Grammatik ist die
Erfahrung (έμπειρία) dessen, was die Dichter und ganz allgemein die
Prosa-Schriftsteller gesagt haben.“ Und gleich der zweite der insgesamt
25 kurzen Abschnitte handelt vom Lesen:

1 Insbesondere der Punkt 6.4 ist ein Ergebnis dieser Diskussion.
 
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