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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0019
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Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen

9

adessemus, sic eum legentem vidimus tacite et aliter nun-
quam (. . .).7
Für den Sonderfall des leisen Lesens gibt es im Lateinischen schon seit
klassischer Zeit das Verb inspicere, (tacite legere, oculis percurrere) ge-
genüber dem normalen legere. In nachklassischer Zeit gebraucht auch
Augustin inspicere in diesem Sinn (De dialectica V 11):
Omne verbum sonat. Cum enim est in scripto, non verbum, sed
verbi signum est; quippe inspectis a legente litteris occurit
animo, quod voce prorumpat.8
Wie ungewöhnlich leises Lesen war, zeigt eine Reihe von Beispielen,
die Balogh anführt. Das schönste stammt aus Kapitel 5 von Plutarchs
Brutus-Vita.9 Was das Griechische angeht, so haben noch die Byzanti-
ner laut gelesen.10
2. Leseerleichterungen in der griechischen Schreibtechnik
Das Lesen von Texten in Scriptio continua ist also deshalb so schwer,
weil man immer erst die Buchstabengruppen herausfinden muß, die zu-
sammengehören. Wortgrenzen sind nicht ohne weiteres erkennbar.
Dasselbe gilt für die Grenzen syntaktischer Einheiten. Auf deren Er-
kennen kommt es jedoch an: Dionysios sagte ja vom Lesen, man müsse
7 Confessiones VI 3. - Josef Balogh (1927) hat die einschlägigen Belege über das laute
Lesen in Antike und Mittelalter zusammengestellt.
8 Hugo von St. Viktor schreibt im Didascalicon „Trimodum est lectionis genus, docentis,
discentis vel per se inspicientis. Dicimus enim: lego librum illi, lego librum ab illo, et
lego librum“ [zitiert nach Balogh (1927:109)]. Inspectivus bedeutet im Mittelalter so
viel wie theoretisch' im Gegensatz zu praktisch' bzw. actualis.
9 Während der Senatsdebatte über die Verschwörung Catilinas, so Plutarch, sei Caesar
ein Schreibtäfelchen gebracht worden, das er leise las (άναγιγνώσκειν σιωπή). Cato
habe dies bemerkt und geschrien, es sei unerhört von Caesar, daß er Mitteilungen und
Schriftstücke von den Staatsfeinden entgegennehme. Worauf Caesar das Täfelchen
wortlos Cato reichte, der es laut las und dann fluchend Caesar vor die Füße warf: Es war
ein billet doux, ein unzüchtiges Brieflein (άκόλαστον έπιστόλιον) von Catos Schwester
Servilia an Caesar. (Plutarch leitet aus dieser Affäre Caesars dessen besondere Rück-
sicht für Brutus ab: Brutus sei mit einiger Wahrscheinlichkeit Caesars Sohn gewesen.) -
Vgl. Balogh (1927:92f.). - Nur destruktiv ist die Kritik von Bernard Μ. W. Knox (1968)
an Balogh.
10 Vgl. Hunger (1978:91).
 
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