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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0035
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Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen

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Eine wichtige Station ist die Bibelübersetzung durch Hieronymus im
4. Jahrhundert. Er schreibt, wegen der besseren Lesbarkeit, den lateini-
schen Text erstmals „per cola et commata“. Das bedeutet, daß aus den
Reihen von Buchstaben, die in Scriptio continua aufeinanderfolgen,
erstmals größere syntaktische Einheiten, die späteren Verse der Bibel,
durch Spatia voneinander abgegrenzt werden.32 Ein Beispiel ist der auf
5. 26 folgende Augustin-Text. Bei Hieronymus kommen Randtitel hinzu.
Ab dem 7. Jahrhundert werden die Zeilen dadurch kürzer (und dadurch
leichter überschaubar, d.h. lesbar), daß man beginnt, den Text in Ko-
lumnen zu schreiben und daß man, bei immer noch in Scriptio continua
gestalteten Texten, Kapitelüberschriften einführt. Eine weitere wich-
tige Station sind die Etymologiae des Isidor von Sevilla. In diesem weit
verbreiteten Werk trennen Schreiber erstmals in den Kapitelüberschrif-
ten die Wörter, während der Textkörper immer noch die Form der
Scriptio continua hat.
In Skriptorien, in denen Texte abgeschrieben werden mußten, konnte
unter den Bedingungen der Scriptio continua nur diktiert werden - einer
diktierte, andere schrieben.33 In England und Irland, also in jenen Be-
reichen, in denen das Latein stets eine Fremdsprache war, die gelernt
werden mußte, verbreitet sich im 8. Jahrhundert das Prinzip der Wort-
trennung, der Scriptio discontinua. Dies ermöglicht erstmals Skripto-
rien, in denen leise kopiert werden konnte. Mit der karolingischen Re-
form, also durch Alkuin, kommt diese Neuerung im 9. Jahrhundert auf
den Kontinent. Im Kloster St. Martin in Tours, in das sich Alkuin zu-
rückzog, entsteht so erstmals auf dem Kontinent ein Skriptorium, in
dem leise kopiert werden kann.
Die neue Technik verbreitet sich rasch. Im 11. Jahrhundert ist leises
Kopieren in den Skriptorien der Normalfall.34 Der Unterschied in der
Textgestalt wird an den beiden Versionen des auf S. 28 und 29 folgenden
Textes deutlich. Es handelt sich um zwei Versionen des Liber pastoralis
Gregors des Großen.

32 κόμμα und κώλον bedeuten in der griechischen grammatischen Literatur noch nicht die
Satzzeichen, sondern das, was durch die späteren Satzzeichen Komma und (Semi-) Ko-
lon abgegrenzt wird, also einen kurzen Satz oder ein Satzglied. Κώλον wird speziell
auch für metrische Einheiten verwendet.
Vgl. hierzu Skeat 1965 mit Diskussion der Literatur.
34 Vgl. zur Entwicklung der lateinischen Schrift und der damit zusammenhängenden Pra-
xis des lauten und leisen Lesens nach der grundlegenden Arbeit von Balogh (1927) den
weiterführenden Aufsatz von Saenger (1982).
 
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