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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0037
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Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen

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Die Version aus dem 7. Jahrhundert macht Gebrauch von der Tech-
nik der Absatzmarkierung durch Majuskel, Alinea und Randmarkie-
rung. Die Schreibart ist nach wie vor Scriptio continua. Der Text ist
bereits interpungiert (es handelt sich um die Akut-ähnlichen Schrägstri-
che). Er ist in der Wiedergabe relativ schlecht zu lesen, weil der Text von
der Recto-Seite durchscheint. Der Text des 12. Jahrhunderts schränkt
die neugewonnene Lesbarkeit dadurch wiederein, daß er, im Gegensatz
zur Version des 7. Jahrhunderts, umfangreichen Gebrauch von Abkür-
zungskonventionen macht.
Der wichtigste Schritt auf dem Weg zur heutigen Schreibtradition ist
zweifellos die Scholastik. 1951 hat Erwin Panofsky ein seinerzeit vieldis-
kutiertes Werk geschrieben, in dem er die gotische Architektur und die
scholastische Wissenschaft als Ausdruck ein und desselben Habitus auf-
weist: Es geht - neben dem Grundprinzip der Dialektik - um das Bestre-
ben nach absoluter Deutlichkeit, um das Sichtbarmachen, daß Ganze
aus Elementen aufgebaut sind, und zwar dergestalt, daß das Ganze die
Teile erkennen läßt und die Teile immer auf das Ganze verweisen. An-
fang der sechziger Jahre hat Robert Marichal dies, inspiriert durch Pa-
nofsky, an der scholastischen Textgestaltung gezeigt, wo ihm insbeson-
dere Martin Grabmanns Ausführungen zum Aufbau der Summa Tho-
mas von Aquins hilfreich waren, und 1976 hat Malcolm B. Parkes einen
profunden Beitrag zu diesem Thema in der Festschrift für Richard Wil-
liam Hunt verfaßt.3:1 Man kann ihn so resümieren:
Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts wird die innere Organisation von
Texten durchgehend sichtbar gemacht, ab dem 13. Jahrhundert spie-
gelt sich die innere Organisation des Textes, die sogenannte ordinatio,
in der Textgestalt wider. Wir haben nun Überschriften, Zusammenfas-
sungen, lebende Kolumnentitel, Markierung der Argumentations-
schritte in Form kleiner Resümees am Rand, ergänzende Fußnoten,
die Verwendung verschiedener Farben und Schriftarten. Der Leser
kann so an jeder Stelle des Buchs erkennen, wo er sich gerade befin-
det. Beginnt er neu mit der Lektüre, kann er sich in einem ausführ-
lichen Inhaltsverzeichnis informieren. Seit der Wiederentdeckung des
Alphabets als Ordnungskriterium, die nicht zufällig in dieselbe Zeit
fällt, kann er dies in zunehmendem Maße auch durch Register. Parkes
betont in diesem Zusammenhang die Entstehung eines organisierten
Buchhandels und das Interesse der Predigerorden, also speziell der
35 Vgl. Panofsky (1951), Marichal (1963), Parkes (1976), Rouse & Rouse (1982), Genest
(1988).
 
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