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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0040
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Wolfgang Raible

Dominikaner und der Minoriten, an gutem Arbeitsmaterial. Mit die-
sen Neuerungen verbreitet sich nun definitiv die Technik des leisen
Lesens. Die Bibliotheken, die noch im 12. Jahrhundert Bücher gemäß
den Regeln einzelner Orden (bekanntestes Beispiel ist die regula Be-
nedicti) jeweils zur Quadragesima für ein ganzes Jahr ausgeliehen ha-
ben, werden nun zu Präsenzbibliotheken, in denen, wie bildliche Dar-
stellungen zeigen, wichtige Bücher am Lesepult an die Kette gelegt
werden.
Eine weitere Neuerung hält allmählich Einzug in die geschriebenen
Texte - die Interpunktion. Texte des 7., 8. und 9. Jahrhunderts haben,
ob sie nun mit Worttrennung oder in Scriptio continua geschrieben sind,
zunehmend Interpunktionszeichen. Namentlich mit der Einführung der
Minuskelschrift setzt sich die Praxis durch, den Anfang des Satzes mit
einem Großbuchstaben sichtbar zu machen. Das Beispiel auf der folgen-
den Seite macht dies deutlich. Es handelt sich um einen der ersten alt-
französischen Texte, die Eulaliasequenz vom Ende des IX. Jahrhun-
derts. Der Text zeigt deutlich, daß die Großbuchstaben hier nur zur
Markierung der Verse bzw. Halbverse verwendet werden, die zugleich
Satzanfänge sind. Die Zeile 6 mit dem Eigennamen ,maximiien‘ oder die
erste Zeile des althochdeutschen Ludwigsliedes mit ,hluduig‘ zeigen,
daß Eigennamen hier nicht groß geschrieben werden. - Vor allem zwi-
schen dem 13. und dem 15. Jahrhundert wird die Interpunktion mehr
und mehr ausgebaut: Das zweite Werk, das 1470 in der Druckerei der
Sorbonne hergestellt wurde, ist ein lateinischer Traktat, der Interpunk-
tion zum Gegenstand hat. Er hat die Form eines Dialogs. Der Schüler
fragt beispielsweise:
- Numquid olim audiui ad te / doctissime magister / punctandi rationem /
nedum legenti / uerum etiam dicenti / simul et auditori / non parum
adiumentum praestare.36
Der Meister antwortet:
- Sic est. consentanea enim puncta / disiungendas lectionis partes sepa-
rant. pronuntiantis spiritum recreant.37 auditoribusque / orationis sen-
sus distinguunt atque demonstrant.38

36 Inzwischen ist, wie man sieht, leises Lesen etwas Alltägliches.
37 Hier geht es um das Atemholen.
38 Der Text ist zitiert nach Marchello-Nizia (1978:34).
 
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