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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0042
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32

Wolfgang Raible

Wir erfahren also hier das gleiche über den Wert der Interpunktion,
was uns schon Dionysios Thrax über die διαστολαί, die richtige Tren-
nung beim Lesen, gesagt hatte. Charakteristisch ist freilich, daß die In-
terpunktion immer noch nicht systematisch verwendet wird. Gleiche
Texte, von verschiedenen Schreibern geschrieben, haben eine sehr un-
terschiedliche Zahl von Interpunktionszeichen.39 Interessanterweise
fehlt in diesem Dialog eines der wichtigsten Interpunktionszeichen,
nämlich die Majuskel am Satzanfang, die zu dieser Zeit längst generali-
siert ist. Daß die Interpunktion, genauso wie die diakritischen Zeichen
in der griechischen Buchschrift, anfangs vorrangig zur Vermeidung von
Mißverständnissen eingesetzt wird, zeigt sich aber beispielsweise daran,
daß der/rac/zgestellte Nebensatz als Normalfall nicht interpungiert wird,
daß dagegen der vorangestellte Nebensatz als Sonderfall durch Inter-
punktion abgetrennt wird.40
Die Interpunktion als Hilfe für den Leser und damit auch als Ver-
kaufsargument wird z.T ausdrücklich in Texten genannt. Es gibt z.B.
eine Reihe von deutschen Bibelübersetzungen vor Luther, die nicht als
selbständige Texte, sondern als Lesehilfen neben dem lateinischen Text
gedacht waren. Die erste ist die Mentel-Bibel von 1466. Der Nürnberger
Drucker und Verleger Koberger schreibt im Kolophon seiner Bibel von
1483:41
mit hohem und großem vleyß. gegen dem lateynischem text
gerechtfertigt. unds schidlich punctirt. Mit uberschrifften bey
dem meysten teyl der kapitel und psalm. iren inhalt und ursach.
an zaygende. Und mit schoenen figuren dy hystorie bedeu-
tende.42
Dadurch, daß die Interpunktion sich mehr und mehr durchsetzt und
systematisiert wird, wird die Majuskel, die zuvor vor allem zur Anzeige
des Satzanfangs verwendet wurde, frei für zusätzliche Funktionen.
Wenn ich recht sehe, wird in vielen europäischen Schriftsprachen mit
der Majuskel zunächst als Zeichen für Eigennamen experimentiert,
39 Die Situation erinnert etwas an die Vielfalt der Interpunktionszeichen, die Wingo
(1972) für die lateinische Epigraphik beschrieben hat. Auch hier gilt im Grunde das,
was Müller (1964) eine „rhetorische“ im Gegensatz zu einer heutigen dominant syntak-
tisch motivierten Interpunktion gesagt hat.
411 Vgl. zu diesem Thema Marchello-Nizia (1978:36f.).
41 Koberger verwendet die Zainersche Übersetzung von 1475.
42 Zitiert nach Stackmann (1988).
 
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