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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0020
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Ernst A. Schmidt

„venustas“, Michael von Albrecht „Humor“ genannt, einen Humor, der
auch das Tragische „nicht verkleinern“ wolle.11
Statt des einen epischen Helden (Achill, Aeneas) als des Brennpunkts
einer großen Handlung (Ilias12, Aeneis) präsentieren die Metamorpho-
sen eine nicht abreißende Kette von Menschen ungewöhnlicher
Schicksale, die, zusammengenommen, den Menschen als ,Helden‘ des
epischen Gedichts ergeben. Das dem Menschen in jeder einzelnen Ge-
schichte einheitlich geltende psychologische Verstehen macht die
Menschheit zum Gegenstand und den Menschen zum Thema.
Der Einwand, die bisherigen Überlegungen machten allenfalls plausi-
bel, daß es in den Metamorphosen um Verwandlungen von Menschen
gehe, nicht aber, daß ihr Thema der Mensch sei, ist nur zum Teil berech-
tigt, nämlich nur insofern, als Ovid eben Verwandlungen (von Men-
schen) erzählt, unberechtigt jedoch, weil die Kosmogonie, die Metallal-
ter, die Verwandlungen in Menschen und die Verwandlungen der Göt-
ter deutlich auf das Thema weisen. Der Einwand in seiner Berechtigung
kann aber erst im Zusammenhang mit der Betrachtung des Sinnes von
Metamorphose entkräftet werden. Jedoch können hier vielleicht die fol-
genden beiden Betrachtungen das Anliegen des Kapitels zu einem vor-
läufigen Abschluß bringen.
So sehr die Metamorphosen zumal bildende Künstler zur Gestaltung
gerade des Prozesses von Verwandlung gereizt haben - nicht jedoch
Picasso-, so gilt doch für die unablässige Wirkung des Gedichts über-
wiegend, daß die darin erzählten Geschichten als Geschichten von erle-
benden und leidenden Menschen gewirkt haben, als Thesaurus von
Geschichten überhaupt, nicht speziell von Verwandlungsgeschichten.
Unser eigener Leseeindruck, unsere Erinnerungen stimmen damit über-
ein. So entscheidend wichtig die Verwandlungen sind - dieses Kriterium
Ovids für die Aufnahme einer Geschichte in sein Werk kann weder der
Erzählung noch dem Werk äußerlich sein-, sie sind nicht das Wesen,
nicht das Thema der Geschichten, sondern gehören zu den Geschichten
und zum Sinn der ganzen Dichtung in signifikant anderer Weise als in
der des Themas.
Wenn wir uns fragen, warum uns bestimmte Verwandlungen mehr als
andere im Gedächtnis haften und als Bilder begleiten, machen wir die
11 Vgl. Pöschl (1976), Lycaon, S. 308 und v. Albrecht (1963), Ovids Humor, bes. S. 436.
12 Die Ilias ist allerdings, nach dem großartigen Strukturentwurf Rudolf Borchardts, eher
die große Einheit, die zwei tragische Helden, Hektor und Achill, im Widerspiel verei-
nigt. Vgl. Borchardt (1944/45), Epilegomena zu Homeros.
 
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