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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0023
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Ovids poetische Menschenwelt

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ohne Frösche vorstellen sollen (und wir die doppelte spätere Erklärung
der Frösche hier auf sich beruhen lassen), dann würde Entsprechendes
für alle Metamorphosen gelten, und wir hätten uns den Schöpfergott mit
dem Register der Metamorphosen als Negativliste in der Hand zu den-
ken, welche Naturwesen noch nicht bei der Weltschöpfung ins Sein
kommen durften, nicht der Lorbeer und nicht die Hyazinthe, nicht die
Spinne und nicht der Wolf. Der Wolf wäre dann die erste durch eine
Metamorphose nachgeholte Teilschöpfung. Oder entsteht durch Ly-
caons Verwandlung gar nicht der Wolf, sondern wird der Frevler einfach
ein Wolf? Also ein zusätzlicher Wolf? Lycaons Tochter Callisto fürchtet
jedenfalls „die Wölfe, obwohl ihr (eigener) Vater unter ihnen ist“ (met.
2,495); oder ist er „in ihnen“? Besagt „in illis“, daß der Eine Lycaon in
den vielen Wölfen ist? Doch auch abgesehen von dieser Schwierigkeit ist
der Sachverhalt merkwürdig genug. In der großen Flut sind doch alle
Lebewesen untergegangen, warum nicht auch Lycaons Tochter Callisto,
die Wölfe und mit ihnen der in einen Wolf verwandelte Lycaon?6 Alle in
met. 1, 304-312 genannten Tiere kommen um; v. 304 beginnt so: „nat
lupus inter oves“ (ist dies - numerisch - ein einziger Wolf, und ist dieser
Wolf Lycaon?). Der Wolf stirbt also, auch der Wolf Lycaon und die
Wölfe? Andererseits fragt man sich, wozu die Strafe der Verwandlung in
einen Wolf nötig war, wenn die Sintflut als allgemeines Strafgericht alles
Leben vernichtete. Sollte Lycaon doppelt bestraft werden, durch Meta-
morphose in einen Wolf und Tod in der Flut? Und dann doch als Wolf
weiterleben?
Bevor ich fortfahre, wiederhole ich, daß ich keinem Leser diese absur-
den Annahmen und Vorwürfe gegenüber Ovids Komposition unter-
stelle; mein Anliegen ist vielmehr gerade, auf unklare, nicht zu Ende
gedachte Prämissen zu verweisen und Kritik daran zu üben, daß diese
absurden Annahmen als die notwendigen Konsequenzen der vertrete-
nen Prämissen nicht explizit gemacht worden sind. Ich weise es als be-
queme Ausflucht zurück, wenn man meint, diese Folgen loswerden zu
können, ohne die eigene Methode und Deutung zu ändern, nämlich in-
dem man solches Nachrechnen als Ovids Poesie unangemessen bezeich-
net. Die Verarbeitung verschiedener Quellen und poetisches Spiel führ-
ten leicht zu solchen ,Widersprüchen4, die aber den Dichter nicht küm-
merten7 und den unbefangenen Leser nicht störten. Sie stören in der Tat
6 Vgl. James (1986), Crises of Identity, S. 22f., Anm. 16: „[. . .] Lycaon and [. . .] Callisto
[. . .] seemed to have survived the flood [.. .].“
7 Vgl. o. Anm. 5. und u. Anm. 11.
 
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