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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0025
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Ovids poetische Menschenwelt

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als Sondertyp des aitiologischen Kollektivgedichts-, so muß man sich
doch klarmachen, daß das Gleiche, nämlich Entstehung eines neuen
Wesens, wenn auch implizit, für die meisten ovidischen Verwandlungen
gilt. Weder die Schöpfung noch die Metamorphose sind Prozesse in der
Zeit8; daher sind sie auch nicht zeitlich miteinander in Beziehung zu
setzen. Beide deuten ein Seiendes in der Sprache einer Entstehungsge-
schichte9 10; ein „vorher“ in der später erzählten Geschichte deutet nicht
auf eine frühere Erzählung, die ein anderes Erklärungsziel hat.
Betrachtet man den Weltaltermythos als ein historisches zeitliches
Konzept, sowohl in sich selbst als auch in Beziehung auf seinen Kontext,
so steht man vor dem Dilemma, alle Geschichten der Metamorphosen
von Lycaon an als entweder während oder nach11’ der Eisernen Zeit sich
ereignend auffassen zu müssen. Entweder also hätten die vier Metallal-
ter nichts mit den Verwandlungsgeschichten zu tun, sondern wären eine
geschichtliche Epoche vor der Zeit der Verwandlungen, oder aber alle
Verwandlungen von Lycaon und Daphne an, von der sogenannten Ur-
zeit an, gehörten in das letzte, das Eiserne Zeitalter, während die drei
früheren Geschlechter bloße Vorgeschichte wären. Andere Schwierig-
keiten wird man gewahr, wenn man beachtet, daß Sintflut und Men-
schenschöpfung durch Deucalion und Pyrrha nach dem Metallalter-
mythos erzählt werden, der erste Schöpfungsbericht den Metallaltern
vorausgeht. Da der erste Menschenbildner Prometheus der Vater Deuca-
lions ist, gehören Flut und neue Menschheit entweder noch in das Gol-
dene Zeitalter, das gleich nach der Erschaffung des Prometheusmen-
schen erzählt wird, oder aber die Folge der vier Geschlechter liegt in der
Zeitspanne zwischen Vater und Sohn, hat die Dauer einer Generation.11
Schließlich führt chronologisch-historische Lesung des Metamorpho-
seneingangs angesichts der drei Menschenerschaffungen (Prometheus,
Terra, Deucalion und Pyrrha) in Aporien und Widersprüche. Geschieht
jede neue Schöpfung zum Ausgleich für die untergegangene frühere,
oder fügt sie eine neue Teilmenschheit in urgeschichtlicher Folge zu?
Zur ersteren Alternative: welchen Sinn hätten die Erzählungen der er-
8 Zu geschichtlichen Metamorphosen vgl. u. S. 133ff.
9 Vgl. Gadamer (19652), Wahrheit und Methode, S. 408: „Jede Frage nach der Entste-
hung ist ein Weg zur Erkenntnis des Seins.“
10 Vgl. u. Anm. 12.
11 Vgl. Herter (1982), Concilium Deorum, S. 110: „Schwierigkeiten in der Chronologie
[.. .] scherten den Dichter nicht, so wenn er sich darüber hinwegsetzt, wie Prometheus
lange vor der Sintflut Deucalions Vater oder Callisto lange danach Lycaons Tochter sein
konnte.“
 
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