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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0047
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Ovids poetische Menschenwelt

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salutifer urbi“ (v. 743f.). Es geht Ovid um thematische Analogie, nicht
um Geschichte. Denn was wäre das für eine römische Geschichte, die auf
die Pest und die Überführung des Aesculapius nach Rom 293/292 v. Chr.
sogleich Julius Caesar folgen läßt? Ist Ovid historisch so ahnungslos, daß
er glaubt, das sei ebenfalls jüngste Vergangenheit? Warum eröffnet er
dann die Aesculaperzählung mit einem Musenanruf, den er so begründet:
„scitis enim, nec vos fallit spatiosa vetustas“ (met. 15,623)?
Ovid hat kein Interesse an Geschichte; er denkt nicht geschichtlich.
Sein ausschließliches Interesse am einzelnen Menschen läßt ihn den
Menschen aller Zeiten als grundsätzlich gleich verstehen; bzw. umge-
kehrt, weil er nur den Menschen in seiner unveränderlichen Menschen-
natur kennt, bekommt er so etwas wie Geschichte gar nicht in den Blick.
Man muß, so paradox das gegenüber einem Werk mit dem Titel Meta-
morphosen auch erscheinen mag, sogar die Erkenntnis zulassen, daß
Ovid die Kategorie der Entwicklung und Veränderung fremd ist. Er ist
nicht nur an geschichtlichen Prozessen nicht interessiert, sondern auch
nicht an der Geschichte eines einzelnen Menschen. Man begegnet in den
Metamorphosen keiner einzigen Lebensgeschichte19, keiner Biogra-
phie, keinem Lebenslauf. Es gibt immer nur jeweils einen einzelnen
Punkt im Leben eines Menschen und den punktuellen, aber endgültigen
Umschlag, die μεταβολή. Die Menschen werden von ihrem Wesenskern
her (der allerdings durchaus ein Grundkonflikt sein kann) als festumris-
sene stabile unveränderliche Wesen angeschaut. In der schlagartigen
μεταβολή wird ihr Wesenskern in der Regel nicht berührt, sondern
bleibt unverändert.20
Das Fehlen von Geschichte als Prozeß ist in Ovids Interesse am Psy-
chogramm individueller unveränderlich gedachter Menschen in radika-
ler Krise begründet. Jede Person der Metamorphosen hat nur eine ein-
zige Wesenseigenschaft und eine einzige Geschichte, die aber kein
Prozeß, sondern ein punktuelles Geschehen oder ein in der Zeit unver-
änderliches Verhalten ist. Die Geschichten sind in ihrer Grundform, in
ihrer Pointe überaus einfach und kurz. Sie können bis auf einen Halb-
19 Allenfalls Cadmus ist vielleicht eine Ausnahme (met. 3,1-137. 138ff.).
20 Das wird auch von Dörrie (1959), Wandlung und Dauer (vgl. bes. S. 97) betont, der seine
philosophische4 Erklärung der Metamorphose ebenfalls auf dieser Grundbeobachtung
aufbaut. Auf eine explizite Auseinandersetzung mit Dörrie glaubte ich verzichten zu
können; der ganze Abschnitt II kann als Alternativvorschlag zu Dörries Deutung gelesen
werden. Zur Bewahrung des Wesenskerns in der Metamorphose vgl. auch S.72,
Anm. 14, Mariotti (1957), Ovidio, S. 626 und Galinsky (1975), Ovid’s Metamorphoses,
S.44f.
 
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