Alexander von Roes
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sehen in Europa; andererseits fehle es ihnen an Herausforderun-
gen, an Erschütterungen des Geistes und des Körpers, und so neig-
ten sie zu Weichlichkeit und Feigheit. Die Europäer hingegen
seien scharfen klimatischen Kontrasten ausgesetzt; die große Dif-
ferenziertheit der Lebensbedingungen bewirke große Differenzen
in Wuchs und Gestalt und fördere Eigenschaften wie Ausdauer
und Tapferkeit. Der Autor ist indes verständig genug, die von ihm
behaupteten Wesensunterschiede zwischen Asiaten und Euro-
päern nicht nur aus physikalischen Bedingungen abzuleiten: hier-
für kommt es, wie er glaubt, auch auf die jeweiligen politischen
Einrichtungen an, auf die staatlichen und gesellschaftlichen Ver-
hältnisse, und er macht insbesondere für die Tapferkeit, den krie-
gerischen Sinn der Europäer die Tatsache namhaft, daß sie nicht
einem despotischen Regiment unterstünden wie die Asiaten.
Mit der Theorie vom Antagonismus Asien - Europa und der
rationalistischen Klimalehre in der hippokratischen Schrift über
die Umwelt ist alles Wesentliche erfaßt, was die griechische Über-
lieferung zum Europagedanken beigesteuert hat. Programmatische
Absichten kommen in alledem nicht zum Ausdruck; immerhin
dokumentiert die Umweltschrift, daß sich griechisches Selbst-
bewußtsein und Wertgefühl eng mit dem Europa-Namen verbin-
den konnten. Die Folgezeit, repräsentiert vor allem durch Aristo-
teles und Isokrates, zehrte von den Vorstellungen des 5. Jahrhun-
derts; die Antithese Europa - Asien war mit der weit häufiger
begegnenden Antithese Hellenen - Barbaren bedeutungsgleich
und diente als Orientierungsmarke zumal für abgewandelte For-
men der älteren Theorien.
Aristoteles stellte die Kausalzusammenhänge, welche die hippo-
kratische Umweltschrift postuliert hatte, auf den Kopf: er meinte,
daß der Unterschied von frei und unfrei nicht auf äußeren Einflüs-
sen, sondern auf anlagebedingten Merkmalen beruhe,17 und dem-
gemäß behauptete er, die Asiaten seien von Natur knechtischer
gesinnt als die Europäer, weshalb sie sich willig ihrem despotischen
Regiment fügten.18
An anderer Stelle wartet er mit einer Dreiteilung auf. Die im
Norden lebenden Völker sowie die Europäer (außer den Grie-
chen), heißt es dort, seien mutig, aber unintelligent und von gerin-
gem handwerklichen Geschick; sie lebten daher in Freiheit, ver-
17 S. z. B. Politik 1,1.
18 Politik 3,9 1285 a 19ff.
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sehen in Europa; andererseits fehle es ihnen an Herausforderun-
gen, an Erschütterungen des Geistes und des Körpers, und so neig-
ten sie zu Weichlichkeit und Feigheit. Die Europäer hingegen
seien scharfen klimatischen Kontrasten ausgesetzt; die große Dif-
ferenziertheit der Lebensbedingungen bewirke große Differenzen
in Wuchs und Gestalt und fördere Eigenschaften wie Ausdauer
und Tapferkeit. Der Autor ist indes verständig genug, die von ihm
behaupteten Wesensunterschiede zwischen Asiaten und Euro-
päern nicht nur aus physikalischen Bedingungen abzuleiten: hier-
für kommt es, wie er glaubt, auch auf die jeweiligen politischen
Einrichtungen an, auf die staatlichen und gesellschaftlichen Ver-
hältnisse, und er macht insbesondere für die Tapferkeit, den krie-
gerischen Sinn der Europäer die Tatsache namhaft, daß sie nicht
einem despotischen Regiment unterstünden wie die Asiaten.
Mit der Theorie vom Antagonismus Asien - Europa und der
rationalistischen Klimalehre in der hippokratischen Schrift über
die Umwelt ist alles Wesentliche erfaßt, was die griechische Über-
lieferung zum Europagedanken beigesteuert hat. Programmatische
Absichten kommen in alledem nicht zum Ausdruck; immerhin
dokumentiert die Umweltschrift, daß sich griechisches Selbst-
bewußtsein und Wertgefühl eng mit dem Europa-Namen verbin-
den konnten. Die Folgezeit, repräsentiert vor allem durch Aristo-
teles und Isokrates, zehrte von den Vorstellungen des 5. Jahrhun-
derts; die Antithese Europa - Asien war mit der weit häufiger
begegnenden Antithese Hellenen - Barbaren bedeutungsgleich
und diente als Orientierungsmarke zumal für abgewandelte For-
men der älteren Theorien.
Aristoteles stellte die Kausalzusammenhänge, welche die hippo-
kratische Umweltschrift postuliert hatte, auf den Kopf: er meinte,
daß der Unterschied von frei und unfrei nicht auf äußeren Einflüs-
sen, sondern auf anlagebedingten Merkmalen beruhe,17 und dem-
gemäß behauptete er, die Asiaten seien von Natur knechtischer
gesinnt als die Europäer, weshalb sie sich willig ihrem despotischen
Regiment fügten.18
An anderer Stelle wartet er mit einer Dreiteilung auf. Die im
Norden lebenden Völker sowie die Europäer (außer den Grie-
chen), heißt es dort, seien mutig, aber unintelligent und von gerin-
gem handwerklichen Geschick; sie lebten daher in Freiheit, ver-
17 S. z. B. Politik 1,1.
18 Politik 3,9 1285 a 19ff.