Alexander von Roes
15
Was Isokrates propagiert hatte, wurde von Alexander dem Gro-
ßen vollzogen: ein unter makedonischer Führung geeintes Grie-
chenland unterwarf das persische Reich. Hiermit verloren die Anti-
thesen Hellenen - Barbaren und Europa - Asien ihren einstigen
Sinn: Alexander und die Diadochen begründeten eine griechisch-
orientalische Weltkultur mit der griechischen Sprache als univer-
salem Verständigungsmittel, und demgemäß entstand eine Bil-
dungsinternationale, ein Kosmopolitentum, das die gesamte be-
wohnte Welt, die Oikumene, zur gemeinsamen Heimat aller Men-
schen erklärte.22 23 Aus dieser Perspektive wurde die einstige, sogar
von Aristoteles gutgeheißene nationale Voreingenommenheit be-
rechtigter Kritik unterzogen: die Zweiteilung Hellenen - Barbaren
sei unbrauchbar, lehrte Eratosthenes; es gebe sowohl schlechte
Hellenen als auch vortreffliche Barbaren, wie z.B. die Römer und
Karthager.24
In römischer Zeit hat der Europa-Name nur vereinzelt über
seine geographische Grundbedeutung hinausgefunden. Die poli-
tisch-ideologische Sprache bediente sich einer Reihe von Ausdrük-
ken, welche die römische Herrschaft als ein System konzentrischer
Ringe vor Augen führten: Rom - Italien - mare nostrum - orbis
terrarum?5 hierbei suchte man, wie einst die Griechen und in
Anknüpfung an sie, das eigene Land als das Land der Mitte und des
Maßes, des Ausgleichs der Extreme zu deuten.26 Eine vereinzelte
Inschrift in Ägypten pries Kaiser Augustus als „Herrn Europas und
22 Nach D. Kienast, „Auf dem Wege zu Europa - Die Bedeutung des römischen
Imperialismus für die Entstehung Europas“, in Europa - Begriff und Idee, hrsg.
von H. Hecker, Bonn 1991, S. 16, bot sich der Europa-Begriff der politischen
Publizistik zur Zeit des Isokrates gerade deswegen an, weil unter ihm neben
den Griechen auch die als Nichtgriechen geltenden Makedonen und Thraker
subsumiert werden konnten. Dem steht entgegen, daß jedenfalls die Make-
donen - zunächst das Königshaus, dann auch das Volk - sehr darauf erpicht
waren, als Griechen anerkannt zu werden, was ihnen nach der Schlacht von
Chaironeia (338 v. Chr.) auch durchaus gelungen zu sein scheint.
23 So insbesondere die Stoa; vgl. J. Kaerst, Die antike Idee der Oekumene in ihrer
politischen und kulturellen Bedeutung, Leipzig 1903, S. 13ff.
24 S. Strabon 1,4,9; vgl. Aristoteles, Fragmenta, ed. V. Rose, Leipzig 1886, Nr. 658.
25 S. hierzu J. Vogt, Orbis Romanus - Zur Terminologie des römischen Imperialis-
mus, Tübingen 1929; V. Burr, Nostrum mare, Stuttgart 1932.
26 So insbesondere Vergil in den sogenannten Laudes Italiae, Georgica 2,136ff.,
nach dem Preis Attikas bei Sophokles, Ödipus auf Kolonos 668ff.; s. ferner
Vitruv 6,1,3ff. Hierzu J. Geffcken, „SaturniaTellus“, HermesII, 1892, S. 381 ff.,
und K. Reinhardt, Poseidonios, München 1921, S. 79ff.
15
Was Isokrates propagiert hatte, wurde von Alexander dem Gro-
ßen vollzogen: ein unter makedonischer Führung geeintes Grie-
chenland unterwarf das persische Reich. Hiermit verloren die Anti-
thesen Hellenen - Barbaren und Europa - Asien ihren einstigen
Sinn: Alexander und die Diadochen begründeten eine griechisch-
orientalische Weltkultur mit der griechischen Sprache als univer-
salem Verständigungsmittel, und demgemäß entstand eine Bil-
dungsinternationale, ein Kosmopolitentum, das die gesamte be-
wohnte Welt, die Oikumene, zur gemeinsamen Heimat aller Men-
schen erklärte.22 23 Aus dieser Perspektive wurde die einstige, sogar
von Aristoteles gutgeheißene nationale Voreingenommenheit be-
rechtigter Kritik unterzogen: die Zweiteilung Hellenen - Barbaren
sei unbrauchbar, lehrte Eratosthenes; es gebe sowohl schlechte
Hellenen als auch vortreffliche Barbaren, wie z.B. die Römer und
Karthager.24
In römischer Zeit hat der Europa-Name nur vereinzelt über
seine geographische Grundbedeutung hinausgefunden. Die poli-
tisch-ideologische Sprache bediente sich einer Reihe von Ausdrük-
ken, welche die römische Herrschaft als ein System konzentrischer
Ringe vor Augen führten: Rom - Italien - mare nostrum - orbis
terrarum?5 hierbei suchte man, wie einst die Griechen und in
Anknüpfung an sie, das eigene Land als das Land der Mitte und des
Maßes, des Ausgleichs der Extreme zu deuten.26 Eine vereinzelte
Inschrift in Ägypten pries Kaiser Augustus als „Herrn Europas und
22 Nach D. Kienast, „Auf dem Wege zu Europa - Die Bedeutung des römischen
Imperialismus für die Entstehung Europas“, in Europa - Begriff und Idee, hrsg.
von H. Hecker, Bonn 1991, S. 16, bot sich der Europa-Begriff der politischen
Publizistik zur Zeit des Isokrates gerade deswegen an, weil unter ihm neben
den Griechen auch die als Nichtgriechen geltenden Makedonen und Thraker
subsumiert werden konnten. Dem steht entgegen, daß jedenfalls die Make-
donen - zunächst das Königshaus, dann auch das Volk - sehr darauf erpicht
waren, als Griechen anerkannt zu werden, was ihnen nach der Schlacht von
Chaironeia (338 v. Chr.) auch durchaus gelungen zu sein scheint.
23 So insbesondere die Stoa; vgl. J. Kaerst, Die antike Idee der Oekumene in ihrer
politischen und kulturellen Bedeutung, Leipzig 1903, S. 13ff.
24 S. Strabon 1,4,9; vgl. Aristoteles, Fragmenta, ed. V. Rose, Leipzig 1886, Nr. 658.
25 S. hierzu J. Vogt, Orbis Romanus - Zur Terminologie des römischen Imperialis-
mus, Tübingen 1929; V. Burr, Nostrum mare, Stuttgart 1932.
26 So insbesondere Vergil in den sogenannten Laudes Italiae, Georgica 2,136ff.,
nach dem Preis Attikas bei Sophokles, Ödipus auf Kolonos 668ff.; s. ferner
Vitruv 6,1,3ff. Hierzu J. Geffcken, „SaturniaTellus“, HermesII, 1892, S. 381 ff.,
und K. Reinhardt, Poseidonios, München 1921, S. 79ff.