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Manfred Fuhrmann
Die christliche Kirche überdauerte den zusammenbrechenden
römischen Staatsapparat, und so lassen sich in den dunklen Zeiten
vor und mit dem Aufstieg des karolingischen Reiches einige
bescheidende Ansätze einer kirchlichen Europa-Idee erkennen.
Das Leitbild der damaligen europäischen Menschheit, die höchste
Stufe menschlichen Lebens und Wirkens, die man sich vorzustel-
len vermochte, war der Christ par excellence, der Mönch, der
Asket, der Heilige - wer diesem Leitbild genügte, verdiente Ruhm;
der Ruhm aber bedurfte eines möglichst weiten Raumes, und die-
ser Raum war, wie die einschlägige zeitgenössische Literatur zu
versichern nicht müde wird, ganz Europa. Als Urheber des hagio-
graphischen Europamotivs mag Sulpicius Severus gelten, der den
heiligen Martin von Tours einmal mit den Worten feiert: „Ägyp-
ten“ (eines der Ursprungsländer des Mönchtums) „lasse sich gefal-
len zu vernehmen, wie ihm oder vielmehr ganz Asien vermöge des
einen Martin Europa nicht im geringsten nachsteht“ - quam Uli vel
universae Asiae in solo Martino Europa non cesserit?2 Dieses Lob
machte Sulpicius zum Archegeten einer Reihe von Äußerungen, in
denen sich der Ruhmesgedanke, seit jeher ein wichtiges Ingrediens
der hagiographischen Literatur, mit dem Europa-Namen verband.
Wer wollte verschweigen, was bereits überall in Europa, ja fast in
der ganzen Welt verbreitet und bekannt ist, heißt es von einem
Mönch; welcher Bewohner Europas wüßte nicht von der Erlaucht-
heit ihrer Herkunft, verlautet von einer Nonne hochadligen
Geblüts, und von dem berühmten Bonifatius versichert der Bio-
graph: „So verbreitete sich die Kunde von seiner gottbegeisterten
Predigt, und sie nahm derart zu, daß man schon fast überall in
Europa von ihm sprach.“42 43
Eine zweite, stärker politisch gefärbte Spielart des kirchlichen
Europagedankens ist vor allem mit dem Namen des jüngeren
Columban (f 615) verknüpft. Dieser irische Missionar, ausgebildet
in Bangor (Wales), zog um das Jahr 590 mit zwölf Genossen nach
Burgund und gründete dort das Kloster Luxeuil. Er geriet wegen
42 Dialogi 2,17,7.
43 Wer wollte verschweigen: Pseudo-Venantius Fortunatus, Vita Maurilii (um
620), in MGH, AA Bd. 4,2, Venantius Fortunatus, Opera pedestria, ed. B.
Krusch, Berlin 1885, p. 99. Welcher Bewohner Europas: Vita Geretrudis (nach
670), in MGH, Script, rer. Meroving. Bd. 2, Chronica - Vitae sanctorum, ed. B.
Krusch, Hannover 1888, p. 454. So verbreitete sich: Willibald, Vita Bonifatii
(vor 768), in MGH, Script, rer. German, in usum scholarum ... editi Bd. 57,
Vitae Bonifatii, ed. W. Levison, Hannover - Leipzig 1905, p. 34.
Manfred Fuhrmann
Die christliche Kirche überdauerte den zusammenbrechenden
römischen Staatsapparat, und so lassen sich in den dunklen Zeiten
vor und mit dem Aufstieg des karolingischen Reiches einige
bescheidende Ansätze einer kirchlichen Europa-Idee erkennen.
Das Leitbild der damaligen europäischen Menschheit, die höchste
Stufe menschlichen Lebens und Wirkens, die man sich vorzustel-
len vermochte, war der Christ par excellence, der Mönch, der
Asket, der Heilige - wer diesem Leitbild genügte, verdiente Ruhm;
der Ruhm aber bedurfte eines möglichst weiten Raumes, und die-
ser Raum war, wie die einschlägige zeitgenössische Literatur zu
versichern nicht müde wird, ganz Europa. Als Urheber des hagio-
graphischen Europamotivs mag Sulpicius Severus gelten, der den
heiligen Martin von Tours einmal mit den Worten feiert: „Ägyp-
ten“ (eines der Ursprungsländer des Mönchtums) „lasse sich gefal-
len zu vernehmen, wie ihm oder vielmehr ganz Asien vermöge des
einen Martin Europa nicht im geringsten nachsteht“ - quam Uli vel
universae Asiae in solo Martino Europa non cesserit?2 Dieses Lob
machte Sulpicius zum Archegeten einer Reihe von Äußerungen, in
denen sich der Ruhmesgedanke, seit jeher ein wichtiges Ingrediens
der hagiographischen Literatur, mit dem Europa-Namen verband.
Wer wollte verschweigen, was bereits überall in Europa, ja fast in
der ganzen Welt verbreitet und bekannt ist, heißt es von einem
Mönch; welcher Bewohner Europas wüßte nicht von der Erlaucht-
heit ihrer Herkunft, verlautet von einer Nonne hochadligen
Geblüts, und von dem berühmten Bonifatius versichert der Bio-
graph: „So verbreitete sich die Kunde von seiner gottbegeisterten
Predigt, und sie nahm derart zu, daß man schon fast überall in
Europa von ihm sprach.“42 43
Eine zweite, stärker politisch gefärbte Spielart des kirchlichen
Europagedankens ist vor allem mit dem Namen des jüngeren
Columban (f 615) verknüpft. Dieser irische Missionar, ausgebildet
in Bangor (Wales), zog um das Jahr 590 mit zwölf Genossen nach
Burgund und gründete dort das Kloster Luxeuil. Er geriet wegen
42 Dialogi 2,17,7.
43 Wer wollte verschweigen: Pseudo-Venantius Fortunatus, Vita Maurilii (um
620), in MGH, AA Bd. 4,2, Venantius Fortunatus, Opera pedestria, ed. B.
Krusch, Berlin 1885, p. 99. Welcher Bewohner Europas: Vita Geretrudis (nach
670), in MGH, Script, rer. Meroving. Bd. 2, Chronica - Vitae sanctorum, ed. B.
Krusch, Hannover 1888, p. 454. So verbreitete sich: Willibald, Vita Bonifatii
(vor 768), in MGH, Script, rer. German, in usum scholarum ... editi Bd. 57,
Vitae Bonifatii, ed. W. Levison, Hannover - Leipzig 1905, p. 34.