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Fuhrmann, Manfred; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 4. Abhandlung): Alexander von Roes - ein Wegbereiter des Europagedankens?: vorgetragen am 16. Februar 1991 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48173#0024
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Manfred Fuhrmann

Grund für diese der Kurie sonst fremde Ausdrucksweise ist offen-
kundig: Leo verweist, um seine Unabhängigkeit von Byzanz hervor-
zuheben, mit Entschiedenheit auf den Raum, der nur ihm zu-
kommt, der dem Einfluß der byzantinischen Kirche entzogen ist.47
Der Heilige als der maßgebliche Repräsentant der frühmittel-
alterlichen Gesellschaft, der Bischof von Rom als höchste Instanz
der lateinischen Christenheit: diese Ansätze eines Europa-
Bewußtseins wurden Überboten und gewissermaßen absorbiert
von der karolingischen Europa-Idee - einer Idee, die Staat und
Kirche umfaßte, die den Staat in den Dienst der Kirche oder richti-
ger der christlichen Heilslehre stellte. Die hierin sich bekundende
Verwendung des Europa-Namens hat gewiß an die Heiligen-Pane-
gyrik angeknüpft. Außerdem mag der Umstand von Bedeutung
gewesen sein, daß Karl der Große an der Spitze eines Reichsver-
bandes stand, dessen Völker nach je eigenen Gesetzen lebten: da
mag man sich gern der Suggestion eines zusammenfassenden, ver-
bindenden und zugleich das fränkische Übergewicht verhüllenden
Ausdrucks anvertraut haben.
Die Geschichte des karolingischen Europagedankens läßt zwei
Phasen erkennen: eine Phase der stolzen Feier einer Gegenwart, in
der eine bestimmte Idealvorstellung von Europa verwirklicht zu
sein scheint, und eine Phase des meist wehmütigen Rückblicks auf
eine immer fernere Vergangenheit. Die erste Phase, die schon
wenige Jahre nach Karls Thronbesteigung einsetzte, bekundete
sich vor allem in der poetischen Panegyrik auf Karl und seinen
Nachfolger Ludwig. Die zweite, bis tief ins Mittelalter nachhal-
lende Phase löste die erste, den politischen Gegebenheiten der
Bruderkriege und Reichsteilungen entsprechend, unmittelbar
nach dem Tode Ludwigs des Frommen ab; sie gipfelte im späten 9.
Jahrhundert in einem Geschichtsbild, das die Einheit Europas fest
mit der Person Karls des Großen verband.
Ein angelsächsischer Priester namens Cathwulf, ein Bewunde-
rer Karls, setzte im Jahre 775 ein Schreiben auf, das einige leitende
Gesichtspunkte der karolingischen Herrschaft zu entwerfen sucht.
Karl, heißt es dort, sei der irdische Stellvertreter Gottes, und im
47 Bei der Anrede, mit der Abt Pilgrim von Novalese Papst Johann VIII. (872-882)
bedenkt - 0 clementissime pastor atque universae Eurupae rector (MGH, Script.
Bd. 7, Chronica et gesta aevi Salici, ed. G. H. Pertz et alii, Hannover 1846, p.
122) -, handelt es sich um eine unangebrachte, wohl aus der Karlspanegyrik
entlehnte Schmeichelei.
 
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