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Fuhrmann, Manfred; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 4. Abhandlung): Alexander von Roes - ein Wegbereiter des Europagedankens?: vorgetragen am 16. Februar 1991 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48173#0035
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Alexander von Roes

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Stellung ein, und die Kategorien Christenheit und Kirche, die bei-
den universalen Kategorien, deren sich das hohe Mittelalter sonst
zu bedienen pflegte, gehen gewissermaßen in ihm auf. Europa und
der populus Christianus, die Christenheit, sind für Alexander iden-
tisch, und die zweite, die allgemein übliche Bezeichnung wird bei
ihm von der ersten, der neuen absorbiert. Europa erscheint als
Kategorie, die eine Vielheit von Staaten, Völkern und Ständen
umgreift. Es gebe dort vier regna principalia, vier Hauptreiche,
stellt der Autor nunmehr fest: das griechische, das spanische, das
römische und das fränkische Reich (Kap. 9). „Die Gemeinschaft
der christlichen Kirche hat in Europa ihren Sitz, vornehmlich in
Italien, Deutschland und Frankreich“, heißt es sodann (Kap. 12),
und ein weiterer Abschnitt befaßt sich mit Europa als Raum von
nationes, einer Völkervielfalt. Die drei Hauptvölker, die Völker, die
am Ämterplan teilhaben sollen, erhalten nunmehr ausgeprägte
Nationalporträts. So ist bei den Italienern das Streben nach Besitz,
bei den Deutschen das Streben nach Herrschaft und bei den Fran-
zosen das Streben nach Wissen bestimmend. Die Italiener,
schreibt Alexander, seien einerseits mäßig, verschwiegen, lang-
mütig und klug, andererseits jedoch habgierig, hartherzig, scheel-
süchtig und zänkisch; den Franzosen wiederum eigneten die
Tugenden der Gerechtigkeit, der Selbstbeherrschung, der Verträg-
lichkeit und der Gewandtheit im Umgang sowie die Laster des
Hochmuts, der Schwelgerei, der lauten Geschwätzigkeit, der
Unbeständigkeit und der Eigenliebe; die Deutschen endlich setz-
ten sich, meint Alexander, durch ihre Tapferkeit, durch ihre Groß-
zügigkeit sowie durch ihre Bereitschaft, den Bösen in den Weg zu
treten und sich der Notleidenden zu erbarmen, in ein günstiges,
und durch ihre Grausamkeit, Raffgier, Grobheit und Streitsucht in
ein ungünstiges Licht (Kap. 13-15).
Die Schriften Alexanders sind fest in das christliche Welt- und
Geschichtsbild eingebunden, in die Vorstellung von dem einma-
ligen Ablauf, der mit der Schöpfung begonnen habe und mit dem
Jüngsten Gericht enden werde. Das Memoriale ist hauptsächlich
der Gegenwart zugewandt; in der Noticia hingegen nimmt Künfti-
ges einen breiten Raum ein: die Heimsuchungen, die der Kirche
aus ihrer Verweltlichung erwachsen werden, sowie das Kommen
des Antichrist. Die wichtigste politische Aussage jedoch, die Lehre
von den drei Ämtern, ist ihrer Form nach gänzlich auf die Vergan-
genheit bezogen: Alexander führt sowohl das Kollegium der Kur-
fürsten, also das regnum der Deutschen, als auch die Pariser Uni-
 
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