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Fuhrmann, Manfred; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 4. Abhandlung): Alexander von Roes - ein Wegbereiter des Europagedankens?: vorgetragen am 16. Februar 1991 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48173#0037
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Alexander von Roes

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Friedens, der Aufrechterhaltung des Status quo, standen zuein-
ander in starker Spannung. Man berief sich, um allzu großer Selbst-
herrlichkeit der Einzelstaaten zu wehren, auf die Gemeinsamkei-
ten der überkommenen Kultur und ersann die Maxime vom
Gleichgewicht der Kräfte: die neuzeitliche Ausprägung des Europa-
gedankens, die man im Gegensatz zur antik-frühmittelalterlichen
Form pluralistisch nennen könnte, war und blieb, da es an institu-
tionellen Klammern fehlte, ein heikler Balanceakt, der schließlich
in der Ära der Weltkriege zu einem schweren Sturz und infolge-
dessen zu gänzlich neuen Entwürfen des europäischen Zusam-
menlebens führte.
Die beiden Traditionen des Europagedankens, die monistische,
gegebene Verhältnisse spiegelnde und die pluralistische, program-
matisch fordernde Form, sind durch Jahrhunderte voneinander
getrennt: die ältere Form verblaßte und erlosch nach der Auf-
lösung des karolingischen Reiches, und die jüngere begann sich vor
und nach dem Jahre 1300 mit den Entwürfen von Alexander, Pierre
Dubois und Dante zu etablieren, als die christlich-römischen Uni-
versalmächte durch erstarkende partikulare Gewalten in Bedräng-
nis gebracht wurden. Das Intervall zwischen den beiden Phasen,
das hohe Mittelalter, wußte nichts von einem wie immer beschaf-
fenen Europagedanken.75 Die auffälligste und wichtigste gesamt-
europäische Unternehmung dieser Zeit waren zweifellos die
Kreuzzüge, und es hat damals keine zweite Erscheinung gegeben,
durch welche sich die Zusammengehörigkeit der Europäer glei-
chermaßen hätte bekunden können. Dennoch sucht man in der
gesamten Kreuzzugsliteratur, in der Geschichtsschreibung ebenso
wie in der Publizistik, vergebens nach dem Europa-Namen: die
Kategorie, die dem umfassenden, alle Völker Europas einbezie-
henden Zuschnitt der Kreuzzüge Rechnung zu tragen suchte, hieß
stereotyp Christianitas, Christenheit.76
75 Zum Folgenden s. W. Fritzemeyer, Christenheit und Europa - Zur Geschichte
des europäischen Gemeinschaftsgefühls von Dante bis Leibniz, München - Berlin,
S. Iff.; Gollwitzer, a.a.O. (Anm. 3), S. 27ff.; G. Tellenbach, „Kaisertum, Papst-
tum und Europa“, in Historia mundi Bd. 6, Bern 1958, S. 9ff.
76 S. z. B. Balderich (Baudry) von Bourgueil, Historia Hierosolymitana, Prolog, in
Recueil des historiens des croisades, Historiens occidentaux, Bd. 4, Paris 1879,
p. 9: Ipse (=Deus) temporibus nostris Christianitatem suam, ubicumque terrarum
erat, pene totam excitavit', Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica, ed. A. Le Pre-
vost, Bd. 3, Paris 1845, p. 622: Factum est igitur gaudium inenarrabile in tota Chri-
stianitate (durch einen Sieg der Kreuzfahrer). Vgl. P. Rousset, „La notion de
Chretiente aux XIe et XIIe siecles“, Le Moyen-Age 69, 1963, S. 191 ff.
 
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