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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0012
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Albrecht Dihle

Phänomenen konfrontiert. Dieser Verstand ist damit die wichtigste
Überlebenshilfe im individuellen wie im sozialen Leben. Als kol-
lektive Erfahrung verdichten sich die Resultate seiner Tätigkeit zu
Sprichwörtern, Lebensregeln u. dgl. An den Wertvorstellungen,
die sich daraus ergeben, orientiert sich der Einzelne in den komple-
xen und immer wieder neuen Situationen des täglichen Lebens.
Sie sind nämlich fest in der Tradition der betreffenden Gesellschaft
verwurzelt und bilden ab, was man den Zeitgeist nennt2.
Die reine, von der Sinneserfahrung gelöste Vernunfttätigkeit
isoliert demgegenüber die Einzelphänomene, löst sie also aus dem
Zusammenhang, in dem die tägliche Erfahrung sie registriert. In
dem damit neu gesetzten Rahmen vermag sie dann analytisch oder
kombinatorisch zu stringent beweisbaren Einsichten zu gelangen.
Diese stimmen mit der durch den „normalen“ Verstand gewonne-
nen Lebens- und Welterfahrung durchaus nicht immer überein.
Dafür gibt es etwa aus Mathematik und Naturwissenschaft reich-
lich Beispiele. Der Richter muß demgegenüber in der Auslegung
des Gesetzes immer wieder auf anerkannte Billigkeitsvorstellun-
gen zurückgreifen, denn seine Entscheidung soll sich im prakti-
schen Leben anwenden lassen. Ebenso bleibt aber auch der Histo-
2 Es ist nicht ganz leicht, eine zulängliche Definition des Ausdrucks „gesunder
Menschenverstand“ zu geben, denn es verbinden sich damit viele und nicht
immer sehr dinstinkte Vorstellungen. Herr Jüngel ist mir hier mit Verweisen auf
Kant und Hegel zu Hilfe gekommen. In der „Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht“ § 41 schreibt der Erstgenannte: „Der richtige Verstand, welcher für
Begriffe der gemeinen Erkenntniß zulangt, heißt der gesunde (fürs Haus hin-
reichende) Verstand.“ Hegel äußert sich in den Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie II 1 (Glöckner-Ausgabe Bd. 18 S. 36) im Zusam-
menhang einer Kontroverse um die Bewertung des Gorgias folgendermaßen:
„... denn das, was man gesunden Menschenverstand nennt, ist nicht Philo-
sophie“ ... und im folgenden „der gesunde Menschenverstand enthält die
Maximen seiner Zeit.“ Eine etwa dem englischen Ausdruck common sense
vergleichbare Entsprechung für die deutsche Junktur gibt es im Griechischen
nicht. Zwar kann hygies „gesund“ außer der medizinisch-physiologischen
Gesundheit von Körper oder Geist auch in mancherlei anderen Zusammen-
hängen das Rechte oder Richtige bezeichnen. Es fehlt aber eine idiomatische
Fixierung mit Beziehung auf die intellektuellen Fähigkeiten. Die auch von
Kant a.a.O. hervorgehobene Implikation, daß gesunder Menschenverstand mit
dem Bewußtsein seiner eigenen begrenzten Reichweite, also mit der Selbst-
bescheidung des Menschen, einhergeht, spielt im Denken der Griechen seit
früher Zeit eine besonders große Rolle, die vor allem durch die zu söphrön
gehörende Wortgruppe bezeichnet wird. Der erste Bestandteil der Wörter die-
ser Gruppe hat die Bedeutung der Vollständigkeit, Unversehrtheit und Funk-
tionstüchtigkeit.
 
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