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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0013
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Vom gesunden Menschenverstand

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riker oder Philologe in der Interpretation seiner Zeugnisse auf den
in der eigenen Lebenspraxis erprobten Verstand angewiesen. Des-
sen Urteile kann er allenfalls auf Grund besonderer Kenntnis ver-
gangener Verhältnisse oder gelegentlich durch Intuition modifi-
zieren. Die Strenge, die man von der Arbeitsweise in den histori-
schen Disziplinen fordert, bezieht sich demnach in erster Linie
darauf, daß sich der Forscher über den Grad der Wahrscheinlich-
keit seiner Folgerungen Rechenschaft ablegt. Besser als alle Refle-
xionen auf die möglichen Methoden hilft dabei oft die Regel, daß
10 schwache Gründe nicht soviel taugen wie ein guter3.
Die Griechen haben früh zwischen diesen beiden Formen intel-
lektueller Tätigkeit unterschieden, mit besonderer Klarheit etwa
Aristoteles4. Er sagt, daß der theoretische Intellekt sich dem Unver-
änderlichen zuwendet und so zu beweisbar wahren Einsichten
gelangen kann. Der praktische Intellekt hingegen operiert dort, wo,
wie im Leben und Handeln der Menschen, die Dinge „auch anders
sein können“, so daß seine Einsichten zwar häufig zutreffen, aber
nie im strengen, keine Ausnahme zulassenden Sinn beweisbar
sind.
Die Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer
Klugheit wird schon an den Anekdoten deutlich, die sich an den
Namen des Thales knüpften. Er galt als der erste Philosoph, Mathe-
matiker und Astronom unter den Griechen, und man wußte von
ihm, daß er eine Sonnenfinsternis, vermutlich die des Jahres 585
v.C., vorausberechnet hatte. Die wohl ältere anekdotische Überliefe-
rung zeichnet ihn als zugleich gelehrten und lebensklugen Mann,
der eine reiche Ölernte voraussah, daraufhin alle Ölpressen ankaufte
und diese nach der Ernte mit großem Gewinn vermietete5. Platon
hingegen erzählt, Thales sei, in astronomische Studien vertieft, in
eine Grube gefallen und von einer thrakischen - also nicht einmal
griechischen - Magd dafür verspottet worden6. Das ist eine frühe
Schilderung des auf seine Wissenschaft konzentrierten und darum
lebensuntüchtigen Gelehrten. Daß man sein Leben der Theorie
oder der Praxis widmen könne, hatte bereits Euripides zwei Figu-

3 Das gilt deshalb, weil ein Argument zwar der legitimerweise anzuwendenden
Methode entsprechen, trotzdem aber schwach sein kann, wobei sich eben
Stärke oder Schwäche nur mit dem „normalen“, die Wahrscheinlichkeit abwä-
genden Verstand bemessen läßt.
4 Z. B. E. N. 1140 b 2ff.
5 Aristot. Pol. 1259 a 6ff.
6 Plat. Theaet. 174 A.
 
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