Metadaten

Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0014
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
8

Albrecht Dihle

ren eines seiner im späten 5. Jh. v.C. aufgeführten Dramen erör-
tern lassen7.
Aus solchen Zeugnissen wird ersichtlich, daß dieser Unter-
schied nicht, wie man erwarten könnte, durch erkenntnistheore-
tische Überlegungen gefunden wurde, sondern im Verfolg der
Frage nach dem rechten Leben, also durch moralische Reflexion.
Freilich muß man dabei bedenken, daß die Griechen durchweg
rechtes Handeln als unmittelbare Folge rechten Wissens und nicht
als Ausfluß eines guten Willens verstanden8. Unter dieser Voraus-
setzung lohnte es sich zu fragen, auf welche Weise der Verstand,
der das richtige Handeln lenkt, arbeiten muß.
Nirgendwo werden die Kategorien, in denen Lebensklugheit
und praktischer Verstand operieren, so deutlich sichtbar wie in den
für eine bestimmte Gesellschaft allgemein verbindlichen Ver-
haltensregeln. Der Lebenserfolg des klugen Mannes kommt daher,
daß er diese Regeln besonders genau kennt und richtig zu befolgen
versteht. Im alten Griechenland glaubte man - wie in allen archai-
schen Kulturen -, daß die Nomoi, die Konventionen, nach denen
sich rechtes Handeln im Urteil der Mitwelt bemißt, von denselben
numinosen Mächten gestiftet wurden, die das den Menschen
unverfügbare Naturgeschehen lenken, von deren Gunst also das
Wohl des Einzelnen wie der Gruppe oder des Gemeinwesens
abhängt. In diesem Sinn konnte man Gesetze und Konventionen
als natürlich oder göttlich ansehen, und eben daraus bezogen sie
ihre Autorität. Der Mythos der Griechen kannte wie der anderer
Völker aitiologische Geschichten, nach denen es Götter waren, die
in der Vorzeit bestimmte Sitten und Gebräuche einführten. Hera-
klit, bald nach 500 v.C., verallgemeinert solche Überlieferungen,
wenn er sagt, daß alle menschlichen Nomoi von dem einen gött-
lichen abhängen9. Die Erfahrung, daß rechtliche und moralische
Regeln sich verändern, suchte der Tragiker Aischylos zu erklären.
Er entdeckte im überlieferten Mythos Zeugnisse dafür, daß Zeus,
der Götterkönig, ausweglose Konflikte unter den Menschen, bei
denen beide Parteien sich auf Normen göttlicher Autorität berufen
können, durch neue Rechtssetzung aufzulösen vermag, zu der er
Menschen veranlaßt10. Frühe Philosophen wie Anaximander,
7 Euripides TGF (2. Aufl.) 181 ff.
8 A. Dihle, The Theory of Will in Classical Antiquity, Berkeley 1982, 20ff.
9 Heracl. B 114 D. K.; vgl. Emped. B 135 D. K.; Orph. fr. 160 Kern.
10 So etwa der Freispruch Orests und die „Entschädigung“ der Erinyen in den
„Eumeniden“. Das Motiv der Versöhnung der Verfechter widerstreitender,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften