Vom gesunden Menschenverstand
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Heraklit oder Alkmaion beschrieben die Regelhaftigkeit der Natur-
vorgänge nach dem Modell gerechter Sozialordnung. Natur und
Gesellschaft wurden also aus einem Blickwinkel betrachtet11.
Daß die Sitten und damit die Maßstäbe für Richtig und Unrich-
tig von Land zu Land verschieden, ja gegensätzlich sein können,
haben die Griechen mit ihrer langen Erfahrung in Seefahrt und
Handel sehr früh registriert12. Aber das bot solange keinen Anstoß,
als man sich auch das Göttliche in der Gestalt einer Vielfalt von
Wesen mit verschiedenen Zuständigkeiten und oft einander wider-
streitenden Intentionen vorstellte. Das allgemeine Bedürfnis nach
einer einheitlichen, allumfassenden sittlichen Norm göttlicher
Autorität vermochte sich kaum einzustellen, wo, wie Thales sagte,
alles voll von Göttern ist13. Intensivere theologische Reflexion frei-
lich wurde relativ früh auf dieses Problem geführt, etwa im Fall des
Dichters Xenophanes14 im späten 6. Jh. v.C. und in der attischen
Tragödie des 5. Jh. v.C.15.
Zwar standen die Götter der Griechen nicht außerhalb oder
über der Welt. Sie fügten sich, bei aller Rivalität untereinander, wie
die Menschen ihrer Ordnung ein16. Insofern war der Kosmos ins-
gesamt eine oberste und in gewissem Sinn auch einheitsstiftende
Instanz. Aber erst die ionische Wissenschaft des späten 5. Jh. v.C.
gelangte in dieser Frage zu begrifflicher Klarheit. „Göttlich ist
alles, was die Natur hervorbringt“, schreibt der Verfasser des hip-
aber gleicherweise geheiligter Normen durch eine neue, durch eine Gottheit
initiierte Normensetzung fand sich auch in anderen Trilogien des Aischylos,
z.B. der Danaiden-Trilogie, von der nur die „Hiketiden“ erhalten sind.
11 Anaximand. A 9 D. K.; Heracl. B 94 D. K.; Alcm. B 4 D. K.
12 Herodot (3,38) berichtet, wie der Perserkönig Dareios I. zwei Angehörige weit
voneinander entfernter Völker seines Reiches zusammengebracht habe, von
denen der eine an die Bestattung, der andere an den Verzehr der Leichen ver-
storbener Angehöriger gewohnt gewesen sei und jeder die Sitte des anderen als
großen Frevel betrachtet habe. Er beschließt den Bericht mit Pindars Aus-
spruch von der königlichen, alles beherrschenden Macht des Nomos (fr. 169
Sn./M.). Schon früh entwickelte sich eine reichlich bezeugte Literatur über die
nomima barbarika, die Sitten der Nichtgriechen, z. B. Hellanikos FGH 4 F
72/73 im 5. Jh. v. C.
13 A 1 D. K. = Diog. Laert. 1,27.
14 Xenoph. fr. 19-22 Diehl.
15 Vor allem Aischylos zeigt Zeus nicht nur in der traditionellen Rolle des Vaters
der Götter und Menschen, sondern als Repräsentanten des Göttlichen schlecht-
hin. Vgl. dazu H. Lloyd-Jones, The Justice of Zeus, Berkeley 1971. In anderer
Weise spricht Euripides von der Einheit der Gottheit (Troad. 884ff.).
16 Heracl. B 30 D. K.
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Heraklit oder Alkmaion beschrieben die Regelhaftigkeit der Natur-
vorgänge nach dem Modell gerechter Sozialordnung. Natur und
Gesellschaft wurden also aus einem Blickwinkel betrachtet11.
Daß die Sitten und damit die Maßstäbe für Richtig und Unrich-
tig von Land zu Land verschieden, ja gegensätzlich sein können,
haben die Griechen mit ihrer langen Erfahrung in Seefahrt und
Handel sehr früh registriert12. Aber das bot solange keinen Anstoß,
als man sich auch das Göttliche in der Gestalt einer Vielfalt von
Wesen mit verschiedenen Zuständigkeiten und oft einander wider-
streitenden Intentionen vorstellte. Das allgemeine Bedürfnis nach
einer einheitlichen, allumfassenden sittlichen Norm göttlicher
Autorität vermochte sich kaum einzustellen, wo, wie Thales sagte,
alles voll von Göttern ist13. Intensivere theologische Reflexion frei-
lich wurde relativ früh auf dieses Problem geführt, etwa im Fall des
Dichters Xenophanes14 im späten 6. Jh. v.C. und in der attischen
Tragödie des 5. Jh. v.C.15.
Zwar standen die Götter der Griechen nicht außerhalb oder
über der Welt. Sie fügten sich, bei aller Rivalität untereinander, wie
die Menschen ihrer Ordnung ein16. Insofern war der Kosmos ins-
gesamt eine oberste und in gewissem Sinn auch einheitsstiftende
Instanz. Aber erst die ionische Wissenschaft des späten 5. Jh. v.C.
gelangte in dieser Frage zu begrifflicher Klarheit. „Göttlich ist
alles, was die Natur hervorbringt“, schreibt der Verfasser des hip-
aber gleicherweise geheiligter Normen durch eine neue, durch eine Gottheit
initiierte Normensetzung fand sich auch in anderen Trilogien des Aischylos,
z.B. der Danaiden-Trilogie, von der nur die „Hiketiden“ erhalten sind.
11 Anaximand. A 9 D. K.; Heracl. B 94 D. K.; Alcm. B 4 D. K.
12 Herodot (3,38) berichtet, wie der Perserkönig Dareios I. zwei Angehörige weit
voneinander entfernter Völker seines Reiches zusammengebracht habe, von
denen der eine an die Bestattung, der andere an den Verzehr der Leichen ver-
storbener Angehöriger gewohnt gewesen sei und jeder die Sitte des anderen als
großen Frevel betrachtet habe. Er beschließt den Bericht mit Pindars Aus-
spruch von der königlichen, alles beherrschenden Macht des Nomos (fr. 169
Sn./M.). Schon früh entwickelte sich eine reichlich bezeugte Literatur über die
nomima barbarika, die Sitten der Nichtgriechen, z. B. Hellanikos FGH 4 F
72/73 im 5. Jh. v. C.
13 A 1 D. K. = Diog. Laert. 1,27.
14 Xenoph. fr. 19-22 Diehl.
15 Vor allem Aischylos zeigt Zeus nicht nur in der traditionellen Rolle des Vaters
der Götter und Menschen, sondern als Repräsentanten des Göttlichen schlecht-
hin. Vgl. dazu H. Lloyd-Jones, The Justice of Zeus, Berkeley 1971. In anderer
Weise spricht Euripides von der Einheit der Gottheit (Troad. 884ff.).
16 Heracl. B 30 D. K.