Metadaten

Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0021
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Vom gesunden Menschenverstand

15

Aufgabe der Philosophie. Im „Phaidros“ etwa beschreibt Platon
eindringlich36 die Unabgeschlossenheit aller philosophischen, auf
Letztes und Höchstes gerichteten Forschung. Auf diesem Weg ver-
dient eigentlich kein Einzelergebnis fixiert zu werden, weil es
seinen Wert nur darin besitzt, den Ausgangspunkt eines weiteren,
im lebendigen Dialog zu vollziehenden Erkenntnisschrittes zu bil-
den. Das dem Menschen aufgegebene Streben nach reiner Ver-
nunfterkenntnis findet also nie ein Ende. Eben darum wird unter
den Verhältnissen unserer empirischen Welt philosophische, auf
letzte Einsichten gerichtete Forschung zur sittlich gestaltenden
Kraft eines ganzen Menschenlebens. Der an Sinneserfahrung und
Tradition gebundene, zu anerkannter Lebensklugheit leitende All-
tagsverstand hatte aus dieser Perspektive keinen besonderen Wert,
weil sich zwischen dem Philosophen und dem Alltagsmenschen
ein tiefer Graben auftat.
Gerade die neuere Forschung hat sich bemüht, über die Vor-
aussetzungen der neuen Ontologie Klarheit zu gewinnen. Die
Betonung des Gegensatzes zwischen Leib und Seele, sinnlich
erfahrener, abbildhafter Welt und nur im Denken zugänglicher,
immaterieller Wirklichkeit, sowie der Glaube an die Präexistenz
und wiederholte Inkarnation der Menschenseele - all das stammte
aus Kreisen, in denen sich Motive älterer Mysterienfrömmigkeit zu
esoterischen Lehren verdichtet hatten. Das Elitebewußtsein jener
Orphiker und Pythagoreer gründete sich auf den Besitz einer
Geheimlehre. Platon und seine Nachfolger verlegten es auf die
Verpflichtung zu unablässiger, intellektuell auf das strengste kon-
trollierter Suche nach Wahrheit. Diese, nicht ein auf wunderbare
Weise geschenktes Wissen, gab der Einsicht des Philosophen in
Platons Augen den Vorrang vor der Meinung der Menge. Der
moralische Anspruch aller Wissenschaft hat hier seinen Ursprung.
Er ergab sich aus dem tiefen Eindruck, den Platon von seinem Leh-
rer Sokrates empfing. Dieser hatte gesagt, ein Leben ohne stete
Selbstprüfung sei nicht lebenswert37.
Wir brauchen jetzt nicht zu erörtern, wie Platon und seine
ersten Schüler aus diesem Ansatz ein kunstvolles System der
Erkenntnistheorie entwickelten. Hier geht es eher um die Regeln
rechten Handelns. Moralische Anweisungen müssen nämlich im
36 Hierin liegt der Sinn der vielbesprochenen Kritik Platons an der Schriftlichkeit;
vgl. Phaedr. 274 C - 277 A.
37 Plat. Apol. 38 A.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften