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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0023
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Vom gesunden Menschenverstand

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klugheit am weitesten entfernte Wissenschaft bestehen. Nur so
kann das rechte Handeln aus der - zwar immer unvollkommenen,
aber auf der jeweils erreichten Stufe gesicherten - Einsicht in die
Ordnung des Seins legitimiert und vor jeder Relativierung
geschützt werden. Wie ernst auch Platons Nachfolger diese Rolle
der Mathematik genommen haben, zeigen viele Platon zugeschrie-
bene Aussprüche, darunter vor allem die Warnungen, in diesem
Studium nicht durch die Verwendung anschaulicher Modelle das
Denken durch den Sinneseindruck zu stören. Auch sollte die
Mathematik von allen praktischen Zwecken ferngehalten und als
Vorstufe rein spekulativer Anstrengung betrachtet werden40. Spä-
ter gab es daraus unter den Philosophen eine lange Diskussion um
die Frage, ob die Mathematik ein Teil der Philosophie sei oder eine
auf diese vorbereitende Wissenschaft41.
Schon zu Platons Lebzeiten fand auch die Gegenposition zu
diesen Grundsätzen moralischer Erziehung ihre klassische Gestalt.
Im Gefolge der sophistischen Bewegung entwarf der Athener Iso-
krates sein umfassendes und sehr wissenschaftsfeindliches Pro-
gramm, für das er den Terminus Philosophie in Anspruch nahm. Es
gründete sich auf die Voraussetzung, daß Menschen von sich aus
sehr wohl wüßten und darin übereinstimmten, was gut und was
böse sei. Die Fehler und Konflikte im menschlichen Zusammen-
leben, so Isokrates, ergeben sich aus Mängeln der Kommunikation,
und hier liegt die Aufgabe der Erziehung42. Wissenschaft mag
nützlich sein, aber nur zur Schärfung des Verstandes. Ihre beweis-
bar wahren Resultate beziehen sich immer nur auf Kleinigkeiten,
während sie vor den großen Fragen des moralischen und politi-

40 Plutarch. Quaest. conv. 8,2,1; Marcell. 14.
41 Dazu A. Dihle, Entr. Fond. Hardt 32, 1986, 211-216; eine ausführliche Erörte-
rung des Verhältnisses zwischen Physik, Theologie und Mathematik findet sich
schon bei Aristoteles (Met. 1026a 18ff.).
42 Isocr. Hel. 12f.; vgl. c. Soph. Iff; Nicocl. 8f.; Panath. 86. Wo ein System helle-
nistischer Schulphilosophie ein paränetisches Kapitel mit Einzelvorschriften
für das moralische Verhalten vorsah (Poseidonios fr. 176 E. K.; Philon von
Larissa b. Stob. Anthol. 2 p. 41; vgl. A. Dihle, Journ. Hell. Stud. 93,1973, 50ff.),
galt die seit Isokrates in der Rhetorik als moralische Unterweisung geltende
Regel, daß man sich dabei an allgemein anerkannte Grundsätze zu halten habe
(Anon, in Hermog. de stat. p. 248ff. Rabe; Ammon, de diff. adfin. voc. 455
Nickau; vgl. C. Riedweg, Ps. Justin ad Graecos, Basel 1994, 66ff.). Während in
der Protreptik, der Werbung für den Entschluß, einer bestimmten Gruppe bei-
zutreten, die Bekämpfung entgegenstehender Meinungen nicht fehlen durfte,
kam es in der Paränese nur auf das gute Zureden an (Epict. diss. 2,26,4).
 
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